Zum Transplantationsgesetz:Die lästigen Reflexe der Toten

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Der Arzt als Henker: Hirntote gelten hierzulande als gestorben, auch wenn sie sich noch bewegen können. Wann dürfen Organe entnommen werden?

Alexander Kissler

Kaum ein Krimi kommt ohne diese Szene aus: Nach der Hälfte des Filmes treffen sich Kommissar und Arzt am Krankenbett. Bang starren sie auf den Patienten, banger noch auf einen Monitor im Hintergrund. Dort verkünden Kurven, begleitet von einem steten Piepen, dass der Zeuge noch lebt. Plötzlich werden aus den Kurven Geraden, wird aus dem Piepen ein Dauerton. Das Wort "Exitus" ist bald zu hören. Das EEG, das Elektroenzephalogramm, weiß Bescheid: Wo kein Hirnstrom, da kein Leben.

Kühlbox für Organe: Hirntote werden nicht selten narkotisiert, um unliebsame Reflexe bei der Organentnahme zu vermeiden. (Foto: Foto: dpa)

Ganz anders sah diese Szene vor 1968 aus. Vor 1968 galt der Tod als eingetreten, wenn das Herz nicht mehr pochte und der Kreislauf kollabiert war. In älteren Filmen beugt der Arzt das Ohr auf die Brust des Moribunden, fühlt den Puls, manchmal wird ein Tüchlein auf das Gesicht gelegt.

Ende der fünfziger Jahre beschrieben dann zwei französische Ärzte erstmals das Hirntodsyndrom. 1968 erschienen die "Harvard-Kriterien". Eine Kommission der Harvard Medical School begründete die Notwendigkeit einer neuen, auf das Gehirn bezogenen Definition des Todes. Quälend lange Komata sollten verhindert, Organentnahmen erleichtert werden.

Ein Zwischenwesen war geschaffen

Unmittelbar davor, im Dezember 1967, hatte Christiaan Barnard die erste Herztransplantation durchgeführt. Sie markiert laut dem Medizinhistoriker Ulrich Tröhler einen enormen Einschnitt.

Erstmals "wurden Leichen mit künstlich erhaltenem Herzschlag, so genannte Hirntote benötigt". Mit den rasch weltweit übernommenen Bestimmungen aus Harvard schuf man diese Zwischenwesen, medizinisch gestorbene und innerlich irgendwie noch lebende Menschen.

Die seither übliche Verknüpfung von Hirntod und Organentnahme, so Tröhler, lässt "erstmals biologische Definitionen menschlicher Identität an die Seite der philosophischen, psychologischen und religiösen Erklärungen treten". Die menschliche Personalität werde biologisiert und deren Ende technologisiert.

Heute schreibt die staatliche "Deutsche Stiftung Organtransplantation" (DSO): "Das Gehirn ist übergeordnetes Steuerorgan aller elementaren Lebensvorgänge. Mit seinem Tod ist auch der Mensch in seiner Ganzheit gestorben."

Stark westlich imprägniert

Unumgänglich, aber auch umstritten ist dieser Satz und zudem stark westlich imprägniert. Andere Kulturen teilen die Dominanz des Gehirns über Leib und Seele nicht. Muslime spenden postmortal eher selten Organe, Japaner ebenso. Unumgänglich bleibt der Satz hierzulande. Laut Transplantationsgesetz von 1997 ist der hirntote Mensch vollständig gestorben, da die Entnahme, die Explantation, sonst Mord wäre.

Der technisch objektivierte Tod sollte den Mangel an Spenderorganen lindern. Zwar haben heute 12 Prozent der Bevölkerung einen Spenderausweis, während es vor zehn Jahren knapp vier Prozent waren; zwar meldet die DSO für 2007 einen "neuen Höchststand bei der Zahl der Organspender". Immerhin 1313 Menschen haben 4140 Organe "nach dem Tod gespendet".

Gleichzeitig aber stehen 12.000 Deutsche auf der Warteliste, von denen jährlich rund 1000 sterben. Unaufgelöst bleibt auch die Spannung zwischen Erfahrung und Setzung. Das Herz kann noch über eine viertel Stunde nach dem "Ausfall des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms" schlagen, den das Gesetz fordert, drei Viertel der Hirntoten können sich bewegen, die Skelettmuskulatur erlischt nach acht Stunden. Nicht selten werden Hirntote narkotisiert, um unliebsame Reflexe während der Explantation zu verhindern.

Beharrliches Zureden

Vor diesem Hintergrund überschlagen sich derzeit die Verbesserungsvorschläge. Angela Merkel, Schirmherrin der Werbekampagne der DSO, setzt auf das beharrliche Zureden: "Sagen Sie Ja zum Leben, sagen Sie Ja zur Organspende!".

Lesen Sie auf der zweiten Seite, warum am Hirntodkriterium gerüttelt wird.

Die Medizinethikerin Alena Buyx hingegen will durch "relativ kleine finanzielle Anreize" die Spendenfreudigkeit erhöhen. Ob der Nähe dieser Anregung zum Organhandel dürfte sie kaum durchdringen.

Der Präsident der Vermittlungsstelle für Spenderorgane Eurotransplant, der Herzchirurg Bruno Meiser, fordert einmal mehr die Einführung der etwa in Belgien, Österreich, Ungarn, Spanien praktizierten Widerspruchsregelung: Wer nicht zu Lebzeiten widerspricht, darf nach dem Tod ausgeweidet werden.

Der "Nationale Ethikrat" erlitt im April 2007 eine Bruchlandung, als er mit gewissen Kautelen für die Widerspruchsregelung plädierte. Aus der "Beistandspflicht" des Menschen folge normativ "die Bereitschaft zur postmortalen Organspende als praktische Bewährung jener Solidarität, die einem von schwerer Krankheit oder dem Tod bedrohten Mitmenschen geschuldet ist."

"Anschlag auf Selbstbestimmungsrecht"

Nicht nur die Grünen sahen in einem solchen "Automatismus der Verfügbarkeit" einen "Anschlag auf das verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht des Menschen". Parteiübergreifend wurde der Ethikrat in die Schranken gewiesen: Schweigen dürfe niemals als Zustimmung gedeutet werden.

Ob mit Geld, guten Worten oder gar einer Abkehr von der momentan geltenden erweiterten Zustimmungsregelung, derzufolge bei fehlendem Einverständnis die Angehörigen des Patienten zustimmen müssen: All diese Vorschläge wollen am Hirntodkriterium nicht rütteln.

Gehört dieses aber nicht, unbeschadet aller Organknappheit, prinzipiell auf den Prüfstand? Klassisch sind die Worte des Philosophen Hans Jonas gegen die Harvard-Kriterien: "Der Zweifel - das letztliche Nichtwissen um die genaue Grenze zwischen Leben und Tod - sollte der Lebensvermutung den Vorrang geben und der Versuchung der pragmatisch so empfohlenen Totsagung widerstehen lassen." Der Patient müsse "unbedingt sicher sein, dass sein Arzt nicht sein Henker wird und keine Definition ihn ermächtigt, es je zu werden."

Arg zeitraubend

Ähnlich argumentierten in der Bundestagsdebatte von 1997 die Gegner der erweiterten Widerspruchslösung wie Otto Schily oder Herta Däubler-Gmelin.

Dem Soziologen Franco Rest missfällt an der "fragwürdigen Definition", dass sie aus dem "noch nicht zu Ende Gestorbenen" eine Sache mache. Für Deutschland ganz neu ist die Verbindung von forciertem Bekenntnis zur Transplantation und gleichzeitiger Abkehr vom Hirntod. Eurotransplant-Chef Meiser forderte vor wenigen Tagen, Organe sollten bei Herz-Kreislauf-Stillstand entnommen werden dürfen. Wenngleich eine solche Änderung des Transplantationsgesetzes nicht mehrheitsfähig ist, weisen die Debatten in diese Richtung.

Ganz offensichtlich hat sich vor allem bei Unfallopfern die ärztliche Bestätigung des Hirntods als arg zeitraubend erwiesen. In den USA hingegen erlaubt der technisch anspruchslosere Blick auf Herz und Kreislauf ein makabres Modellprojekt. Bei schweren Unfällen rücken in New York Doppelambulanzen aus. Rettungsteam und Chirurgen sind zeitgleich vor Ort. Dann kann der Exitus nahtlos übergehen in die Explantation.

Industrielle Angebotssicherung von Organen

Spätestens an diesem Punkt wird aus der vermuteten Beistandspflicht ein erzwungener Tod, aus der Ideologie der Lebensqualität ein Programm zur industriellen Angebotssicherung von Organen. Insofern sind die Dilemmata der Transplantation typische Dilemmata der Spätmoderne.

Die Technik gebiert Probleme, die es ohne Technik so nicht gäbe und die nun technisch gelöst werden sollen. Um eine zentrale Frage wird die anschwellende Debatte um den Hirntod deshalb keinen Bogen machen können: Welchen Begriff und welches Bild vom Menschen hat die Menschheit des beginnenden 21. Jahrhunderts?

© SZ vom 23.06.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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