Zum Tod von Alexander Solschenizyn:"Ich unterliege der Zeit"

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Homo sovieticus ex negativo: Der Literatur-Nobelpreisträger bekämpfte den Bolschewismus zwar Zeit seines Lebens, doch er war ein absolut sowjetischer Mensch. Für ihn war Pluralismus eine temporäre Störung.

Sonja Zekri

Eine Parteikonferenz in einem Kaff bei Moskau. Beflissen nehmen die Mitglieder die übliche Loyalitätsadresse für Stalin an, obligatorischer Beifall reißt die Menschen von den Sitzen.

Alexander Issajewitsch Solschenizyn, 11.12.1918 - 3.8.2008: Der Westen übersah seine reaktionären und modernismusfeindlichen Züge. (Foto: Foto: dpa)

Sie klatschen stürmisch, drei Minuten, vier Minuten lang, dann werden den ersten die Arme lahm. Aber im Saal sitzen Mitarbeiter des Geheimdienstes NKWD, niemand wagt, als erster aufzuhören. Fünf Minuten, sechs Minuten. Den Älteren bricht der Schweiß aus, einige schwanken. Acht Minuten, neun Minuten. Der Direktor einer Papierfabrik blickt flehend auf den Ersten Bezirkssekretär, aber der ist neu im Amt und traut sich nicht.

Selbst glühende Stalinanhänger stöhnen. Sie werden klatschen, bis sie umfallen - und Stalin kriegt es nicht mal mit! Nach elf Minute läßt sich der Fabrikdirektor mit wichtigem Gesicht in den Sitz fallen. Schlagartig erlischt der Applaus.

Totale Komik

Noch in derselben Nacht wird der Direktor verhaftet. "Sehen Sie", schrieb Alexander Solschenizyn, "das ist die Darwinsche Auslese. Unter Anwendung der Zermürbungsmethode der Dummheit."

Diese Szene aus dem Epos "Archipel Gulag" zeigt eine Eigenschaft, die man mit Alexander Solschenizyn selten in Verbindung gebracht hat: Witz. Dass die totale Repression jederzeit in totale Komik umschlagen konnte, war eine unterschätzte, aber provokative Botschaft dieses Jahrhundertwerkes, inmitten des endlosen, nach den Regeln feinster Demütigungen und raffiniertester Foltern organisierten Sklaven-Kosmos flackerte Humor auf wie eine Tranfunzel.

Alexander Issajewitsch Solschenizyn wurde am 11. Dezember 1918 im kaukasischen Kislowodsk geboren, als Sohn einer Stenotypistin und eines Lehrers, er ist am 3. August in Moskau gestorben, und obwohl er den Bolschewismus Zeit seines Lebens erbittert bekämpfte, war er ein durch und durch sowjetischer Mensch, ein Homo Sovieticus ex negativo.

Er war ein Kind jenes geistigen Rigorismus, der Pluralismus als temporäre Störung betrachtete und andere Meinungen nur als pädagogische Herausforderung.

Wo immer er sein mönchisches, mörderisch produktives Leben verbrachte - im Zürcher Exil, im amerikanischen Vermont oder später im kapitalistischen Moskau -, seine Vision eines anderen, besseren Russland stammte direkt aus dem Zeitalter der Ideologien.

Solschenizyn betrieb den Sturz der Sowjetunion mit einer Verbissenheit, die jener der Herrschenden kaum nachstand und die bittere Ironie liegt darin, dass er dieses Leben und dieses Werk ohne sie nie geschafft hätte.

Solschenizyn gehörte zweifellos in eine Ära, in der sich ein Gesellschaftsentwurf, eine Welt, sogar die Wahrheit noch in einem einzigen Buch fassen ließ. Und nirgends wurde das Wort so verehrt und so gefürchtet wie im Osten Europas.

"Für das Volk, das die gesellschaftliche Freiheit entbehrt, ist die Literatur die einzige Tribüne, von deren Höhe aus es dazu nötigt, den Aufschrei seiner Entrüstung und seines Gewissens zu vernehmen", hatte Alexander Herzen 1850 geschrieben: "Der Einfluss der Literatur nimmt in einer solchen Gesellschaft ein Ausmaß an, das es in den anderen Ländern Europas längst verloren hat."

Modellfall eines politischen Schriftstellers

Der russische Literat war moralisches Gewissen, Seher, messianische Lichtgestalt - und dabei war es völlig unerheblich, ob Solschenizyn in diese Rolle durch sein Schicksal hineingewachsen war oder ob er sie in dieser Dimension überhaupt erst geschaffen hat.

Solschenizyns Leidensweg war der von Millionen Sowjetbürgern: Wegen ein paar bissigen Bemerkungen über Stalin in seiner Feldpost wurde er als Hauptmann direkt von der Front verhaftet, zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt, anschließend drei Jahre in die kasachische Einöde in Kok-Terek verbannt.

Um ein Haar wäre er an Krebs gestorben, 1954 wurde er im usbekischen Taschkent gerade noch gerettet. In der "Krebsstation", einem Werk, das fast ohne historisches und religiöses Pathos auskommt und heute seltsam leicht erscheint, schlugen sich diese Erfahrungen nieder.

Er hatte sich spät entschieden, ganz für die Literatur zu leben, und obwohl er seinen ästhetischen Anspruch stets betonte, blieb er der Modellfall eines politischen Schriftstellers. "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" wurde im Jahr 1962 mit Zustimmung Nikita Chruschtschows in der Zeitschrift Nowyj Mir veröffentlicht und erschütterte das Land in seinen Grundfesten.

Es war nicht der erste Lagerroman, auch nicht der erste, der das eigene Martyrium aufgriff. Aber Solschenizyn, der vor dem Krieg als Physiklehrer gearbeitet hatte, schlug einen technizistischen Ton an, der dem Leser den Atem raubte: Der Mensch als wartungsintensiver Mechanismus, dessen Überleben von Betriebstemperatur und Materialermüdung abhängt - das ließ nicht nur die spirituelle Grundierung umso heller leuchten, es war auch ein Kommentar zum pervertierten bolschewistischen Technikfetischismus.

Beispiellose Freiheiten

Doch das Tauwetter zog vorüber, 1966 erschien Solschenizyns letztes Werk in der Sowjetunion. Er forderte die Abschaffung der Zensur - und wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen.

Er habe sich im Krieg den Deutschen ergeben, raunte man. "Die Person, die Sie unter dem Namen Solschenizyn kennen, heißt in Wirklichkeit Solschenizer, und er ist Jude", hetzte ein Dozent in Moskau.

Solschenizyn sah sich durch jeden Angriff in seinem Hass auf das gottlose Lügen-Regime gestärkt. Er erlaubte sich beispiellose Freiheiten. "Krebsstation" und "Der erste Kreis der Hölle" ließ er im Westen publizieren, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.

Als er 1970 den Nobelpreis für Literatur erhielt, verzichtete er klug auf die Reise nach Stockholm, um seinen Gegnern keinen Vorwand für den Rauswurf zu bieten, überflutete das fassungslose Land aber anschließend mit Protestnoten, einem "Offenen Brief an die sowjetische Führung" und Enzykliken an das russische Volk.

Verglichen mit anderen Schriftstellern, mit Boris Pasternak, Juli Daniel oder Andrej Sinjawski, blieb Solschenizyn lange Zeit bemerkenswert unbehelligt.

Er wurde nicht ins Lager gesperrt, nicht in der Psychiatrie zum Wrack gespritzt. 1973 aber entdeckte der KGB in der Wohnung seiner Stenotypistin ein Exemplar des "Archipel Gulag". Solschenizyn hatte es noch nicht im Westen veröffentlicht, weil er die Arbeit an seiner gigantischen, auf 20 Bände angelegten Revolutionschronik "Das Rote Rad" nicht gefährden wollte, an der er schrieb, seit er zehn Jahre war.

Diese Gelegenheit wollte sich die Sowjetführung nicht entgehen lassen. Staats- und Parteichef Leonid Breschnjew hatte den Irak oder Dänemark für die Ausweisung vorgeschlagen, aber Bundeskanzler Willy Brandt hatte angeboten, in der Bundesrepublik könne Solschenizyn frei leben und arbeiten.

Am Ende zog wohl der damalige KGB-Chef Jurij Andropow die Fäden. Im Februar 1974 flogen KGB-Agenten den müden Schriftsteller in einer Aeroflot-Maschine nach Frankfurt. Es dauerte zwanzig Jahre, bis er zurückkehrte. Seine Stenotypistin überwand ihr Missgeschick nie und erhängte sich.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, warum Solschenizyn auch der Westen fremd blieb.

Unter den Linken im Westen löste der "Archipel Gulag" ein Erdbeben aus. Bislang nur im Samisdat, im illegalen Selbstverlag, in Russland verbreitet, erschien das Buch nun in Frankreich, Spanien, Deutschland, sein Titel wurde zum Synonym für die kriminellen Reflexe des Bolschewismus. In Scharen traten die Kommunisten in Paris und Rom aus der Partei aus.

Solschenizyn aber lebte das unglückliche Leben des Emigranten, wohnte eine Zeitlang bei Heinrich Böll, zog in die Schweiz, später nach Amerika. 17 Jahre verbrachte er in Cavendish, Vermont, einem Ort mit 320 Einwohnern.

Seine beiden Häuser auf einem riesigen Grundstück waren durch einen unterirdischen Tunnel verbunden: ein klaustrophobisches Setting, eine Lager-Situation.

Ohnehin begriff er Amerika als Zumutung, litt unter den Spitzeleien des KGB, der oberflächlichen Konsumkultur, den aufdringlichen Medien. Zu seinen wenigen Gästen gehörte Rudolf Augstein, der nach Vermont wie zu einem Orakel gepilgert war. Nach dem Gipfeltreffen druckte der Spiegel ein 30-seitiges Interview, das heute so rätselhaft wie Altkirchenslawisch klingt.

Wiedergeburt und Reinigung

Solschenizyns reaktionäre, modernismusfeindliche Züge übersah der Westen. Dass er sich selbst zu einer Art Awwakum stilisierte, zu einem konservativen Befreier, begriffen nur wenige.

Der Erzpriester Awwakum, Anführer der Altgläubigen, hatte sich im 17. Jahrhundert gegen die Kirchenreform aufgelehnt und war auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, und um Wiedergeburt und Reinigung kreisten auch Solschenizyns Bemühungen, wenn er etwa von bedrängten Kollegen in der Sowjetunion forderte, sie mögen aushalten und durch ihr Leid Russland erlösen.

Noch 1968 hatte der spätere Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow liebevoll von den "lebhaften blauen Augen und dem rötlichen Bart" Solschenizyns gesprochen, den "gemessenen exakten Bewegungen" und der "raschen, temperamentvollen Sprechweise" (die geradezu zungenbrecherisch war).

Doch der rationale Humanismus des Physikers war Lichtjahre entfernt von Solschenizyns Erlösungsphantasien. Die beiden entfremdeten sich, andere folgten.

Und doch: Als der Schriftsteller 1994 in seine Heimat zurückkehrte und im Triumphzug vom Fernen Osten bis nach Moskau in einem Sonderwagen durch das Land fuhr, waren die Erwartungen hoch wie das Pamir-Gebirge.

Solschenizyn hatte erreicht, was er wollte, das Sowjetsystem war hinweggefegt, dennoch fand er er keinen Platz in Russland - wieder einmal. Seine Fernsehsendung wurde abgelöst, seine beißende Kritik am rauschhaften Kapitalismus verhallte.

Der "Archipel Gulag" erschien endlich in Russland, aber er verkaufte sich nicht besonders. Solschenizyns Thesen galten als atavistisch, sein kindlicher Monarchismus, die Verklärung der russischen Volksfrömmigkeit, der antiaufklärerische Moralbegriff - dabei waren es genau diese Ideen gewesen, die dem "Archipel Gulag" zugrunde lagen, "Iwan Denissowitsch", dem "Roten Rad". Man hatte es nur nicht wahrhaben wollen.

Gott und das heilige Russland

Der sowjetische Literaturwissenschaftler Efim Etkind hatte Solschenizyn in den Siebzigern vorgeworfen, er strebe die Theokratie an: "Solschenizyn will einen russischen Ayatollah." Das war Polemik. Doch Solschenizyns Hass auf die Sowjetmacht war im Westen mit einem Bekenntnis zur Demokratie verwechselt worden. Dabei war Pluralismus für ihn nie Selbstzweck, sondern stets nur ein Mittel zur Rettung Russlands und nicht mal ein besonders verlässliches.

Solschenizyn war nie ein Menschenrechtler im modernen universalistischen Sinne, denn höher als die Rechte des Einzelnen standen für ihn Gott und das heilige Russland.

Seine letzten Bücher waren spröde Fronterinnerungen. Und fast zum Skandal kam es, als er seine zweibändige russisch-jüdische Geschichte vorstellte, "200 Jahre zusammen". Darin äußerte er nicht nur verdächtiges Verständnis für die Progrome nach der Februar- und Oktoberrevolution, da die Juden gar so eifrig in die Reihen der Bolschewiken gedrängt hatten.

Er forderte von den Juden sogar eine intensive "Erinnerungs- und Bewältigungsarbeit", eine Art Schuldeingeständnis für ihre Teilnahme an der bolschewistischen Vernichtung der russischen Nation: Die Juden - ein Tätervolk, und Solschenizyn fühlte sich wieder einmal gründlich missverstanden.

Er war zu eigensinnig, um sich vor den Karren einer Partei spannen zu lassen, und seine geopolitischen Vorstellungen passten schlecht zu den Ideen sowjetischer Nostalgiker.

Väterliche Mahnung an Putin

Aber dass er der Ukraine die orangefarbene Revolution übel nahm, Weißrussland als genuinen Teil Russlands betrachtete und mit Sorge eine "Umzingelung" seines Landes durch die Nato feststellte, das klang am Ende doch sehr nach der offiziellen außenpolitischen Doktrin Russlands.

Für Michail Gorbatschow und Boris Jelzin hatte er stets nur Verachtung übrig gehabt, ausgerechnet der ehemalige KGB-Chef Wladimir Putin aber fand seine Billigung: Putin, der ein Netz von Freunden und Kameraden aus eben jenen Diensten über das Land breitet, die Solschenizyn sechzig Jahre zuvor in den Gulag verschleppt hatten, der die Medien erneut zu hohlem Verlautbarungsjournalismus zwang, der die regionale Selbstverwaltung - Solschenizyns Lieblingsprojekt - abgeschafft hat und die Gouverneure selbst einsetzte. Von diesem Präsidenten ließ er sich besuchen, mit ihm plauderte er über das Schicksal Russlands, von ihm ließ er sich den Staatspreis verleihen.

Eines seiner zuletzt diskutierten Werke, ein neu aufgelegtes und tausendfach verteiltes Manifest über die Februar-Revolution war eine väterliche Mahnung an Putin, nicht denselben Fehler zu begehen wie Nikolaus II. und keine Schwäche zu zeigen.

Solschenizyns Tragödie lag darin, dass das undankbare, geschäftige, egozentrische Russland seine Verdienste so gründlich vergessen hat wie es die Erinnerung an den Terror überhaupt beiseite drängt.

Sie lag aber auch darin, dass die größte historische Leistung seines Volkes - die unblutige Befreiung von der Diktatur - Solschenizyn nicht mit seinem Land hat versöhnen können, weil dieser sie nie angemessen gewürdigt hat.

"Die Bücher drängt keine Frist. Ich aber unterliege der Zeit", hat er gesagt. Nun hat die Zeit gesiegt.

© SZ vom 5.8.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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