Zum Ende der Filmfestspiele in Venedig:Schlecht gebrüllt, Löwe!

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Zum Schluss gibt es einen etwas anrüchigen Goldenen Löwen für Ang Lee - und trotzdem ein positives Fazit: Venedig ist und bleibt ein Ort, an dem Blockbuster-Kino nichts zu suchen hat.

Susan Vahabzadeh

Wenn einer der, sagen wir mal, fünf besten Filmemacher der Welt einem der anderen vier den Goldenen Löwen von Venedig überreicht, möchte man eigentlich vorbehaltlos jubilieren. Dass Zhang Yimou, Jurypräsident bei der 64. Mostra in Venedig, seinen Kollegen Ang Lee für "Lust, Caution" zu Pfiffen auszeichnete, hat er sich allerdings selbst zuzuschreiben.

Ang Lee muss sich dem Verdacht der Kungelei erwehren. "Lust, Caution" wurde in China gedreht, Jurypräsident Zhang Yimou ist Chinese. (Foto: Foto: dpa)

Warum sich diese Jury, bei all den Möglichkeiten, die der Wettbewerb bot, ausgerechnet für Ang Lees Film entschieden hat, für den sich aus unerfindlichen Gründen in den letzten zehn Tagen die Beschreibung Spionage-Thriller eingebürgert hat, bleibt eine schwer nachvollziehbare und gelinde gesagt etwas unglückliche Entscheidung.

23 Wettbewerbsfilme mit einer Gesamtlänge von 2674 Minuten, da kann schon mal die eine oder andere danebengehen. "Lust, Caution" war nicht gerade ein Publikumsrenner, die Kritik war mäkelig.

Dass man den Film des zweitletzten Siegers prämiert - 2005 hat Ang Lee schon mal den Goldenen Löwen gewonnen, mit seiner herrlichen Cowboy-Romanze "Brokeback Mountain" -, ist eine sehr vertretbare Entscheidung für eine Festivalleitung, dem Werk eines Regisseurs, der für soviel positive Energie gesorgt hat, ist man verpflichtet. Deswegen hat aber keiner Anspruch auf ein Löwen-Abo.

Ein Thriller ist "Lust, Caution" sicherlich nicht, dazu ist der Film mit seinen zweieinhalb Stunden wahrlich zu schwerfällig. Dass das Festivalpublikum auf Sex in Großaufnahme inzwischen eher genervt reagiert, dafür haben Filmemacher wie Catherine Breillat, die ebenfalls in der Jury saß, selbst gesorgt - das Alles-schon-gesehen-Gefühl beflügelt bestenfalls die Langweile.

Aber es geht bei der Kritik an dieser Jury-Entscheidung eben nicht einfach nur darum, ob man den Film mochte: Der Jurypräsident ist darüber hinaus auch noch Chinese, und der Taiwanese Ang Lee hat in China gedreht - Chinese prämiert Chinesen, sticheln die italienischen Kritiker.

Dazu kommt noch die Vermutung, Ang Lee habe den historischen Plot so gründlich vernachlässigt, der sich um eine Widerstandskämpferin dreht, die sich während der japanischen Besatzung im Zweiten Weltkrieg in einen Funktionär der chinesischen Kollaborationsregierung verliebt, um Ärger in China aus dem Weg zu gehen. Es kommt aber noch dicker: Der Produzent von "Lust, Caution" arbeitet sonst mit Zhang Yimou.

Ein etwas anrüchiger Löwe, aber dieser Wettbewerb hat es nicht verdient, im Schatten dieses Schlussworts zu verschwinden. Er hatte mindestens zwei Anwärter auf den Hauptpreis, die beide auch bedacht wurden - Abdellatif Kechiches wunderschöne Familiengeschichte "La graine et le mulet" bekam einen Spezialpreis der Jury, Brian De Palma hat für sein furioses Irakkriegs-Digital-Experiment "Redacted" den Silbernen Löwen für die Regie bekommen.

Insgesamt sieht das Ergebnis so aus, als habe die Jury - eine, die nur aus Filmemachern bestand - ein Statement zum Erzähltempo machen wollen, sich mit aller Macht gegen die Hollywood-Vorgaben atemloser Action verwahren mögen, die Handlung vorgaukelt, wo oft gar keine ist.

Kechiches "La graine", bis zum Schluss der unangefochtene Publikumsfavorit, obwohl von seinen zweieinhalb Stunden ungefähr eine auf ein Fest und eine halbe auf ein Mittagessen der Familie entfallen, ist ein Paradebeispiel dafür, dass es nicht die sich überstürzenden Ereignisse sind, die den Zuschauer an einen Film binden, sondern die Wahrhaftigkeit der Figuren, die Emotionen - magische Wirklichkeit.

Die Neigung zu einem allein von der Charakterisierung getriebenen Kino war ein roter Faden des Wettbewerbs, und er spiegelt sich auch in den Darstellerpreisen - Brad Pitt bekam die Coppa Volpi für "The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford" und Cate Blanchett für ihren Auftritt als eine der Facetten von Bob Dylan in Todd Haynes' "I'm Not There".

Zwei Filme mit spürbarer Überlänge, aber zwei schauspielerische Leistungen, die der Auszeichnung würdig waren - schon weil sie gegen ein Nichts an Handlung antraten. Damit hat die Mostra schon mal eine ihrer wichtigsten Aufgaben erfüllt - der Geist des Blockbuster-Kinos hat dort nichts zu suchen, die Festivals sind die letzte Bastion gegen eine Gleichförmigkeit des Erzählens.

Dieser Widerstand ist gerechtfertigt - in Deutschland haben wir gerade ein besucherschwaches Kinojahr trotz Blockbusterschwemme. Die Vermutung, alle wollten immer nur dasselbe sehen, möglichst fünf Teile der selben Geschichte, ist eben nicht richtig. Auch wenn selbst am Lido der Pirat Johnny Depp für das lauteste Gekreische sorgte bei der Gala für Tim Burton, der einen Löwen für die erste Hälfte seines Lebenswerks bekam.

Wahrscheinlich hatte Marco Müller, der Tim Burtons Kino liebt, Angst, er könnte die Gelegenheit verpassen - ob er in Venedig bleibt und wenn ja wie lange, wird wohl erst Anfang 2008 geklärt.

Müller hat für die 64. Mostra in 75 Jahren ein Programm gemacht, in dem alles mit allem zu tun hat, Politkino im Genregewand aus drei Erdteilen, und manche der Querverbindungen geben schöne Denksportaufgaben auf.

Die schönste Passage bei Haynes gehört tatsächlich Cate Blanchett, die darüber sinniert, dass es so etwas wie einen Protestsong nicht gibt, ein Kunstwerk immer nur eine Stimmung transportiert und doch nie die Welt verändert - das führt zurück zu den Irakkriegsfilmen und zu Nikita Mikhalkovs Tschetschenien -Gerichtsthriller "12", zu der Frage, ob politisches Kino nicht immer offene Türen einrennt.

Und warum glauben Johnnie To - der den Überraschungsfilm lieferte mit "Mad Detective" - und Todd Haynes beide, dass eine Persönlichkeit in exakt sieben Teile zerfällt? Die Antwort kennt nur der Wind. Genau dafür sind Festivals da - man braucht sie nicht, wenn sie nur Abspielstätte sind für Filme, die autonom genau den selben Eindruck hinterlassen würden.

© SZ vom 10.9.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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