Wieder da: "Sonic Youth":Nostalgische Ranschmeiße?

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Vom Kampf zwischen Lärm und Melodie: "Sonic Youth" führt nach fast 20 Jahren ihr legendäres Doppelalbum "Daydream Nation" in Barcelona wieder auf.

Merten Worthmann

Lee Ranaldo hat jetzt weiße Haare, und Thurston Moore muss gelegentlich eine schwarze Hornbrille aufsetzen, um das Publikum klarer erkennen zu können. Kim Gordon trägt allerdings nach wie vor knappe Kleidchen mit schimmernden Pailletten, und Steve Shelley kann immer noch aussehen wie ein Schuljunge. Das sind alles Äußerlichkeiten. Aber man bemerkt sie unwillkürlich, während man dabei ist, jenem zeitlichen Abstand nachzugehen, der oben auf der Bühne zugleich markiert und übersprungen wird.

Mittlerweile ist die "Youth" nach dem "Sonic" verblasst: Die Band gehört bereits seit Beginn der 80er zur Noise-Avantgarde. (Foto: Foto: AP)

1988 hat die New Yorker Noiserockband Sonic Youth ihr legendäres Doppelalbum "Daydream Nation" aufgenommen. Heute, fast 20 Jahre später, geht sie mit diesem Meilenstein aus Sound auf eine Art rockhistorische Reenactment-Tour. In Barcelona war am vergangenen Wochenende Weltpremiere, gegen Ende des Monats wird es auch in München und Berlin je ein Konzert mit dem expliziten Titel "Sonic Youth performing Daydream Nation" geben.

Fragwürdige Wiedervereinigungen

Was bei Konzerten klassischer Musik gang und gäbe ist, kommt einem hier plötzlich merkwürdig vor: dass man von Anfang an genau weiß, was gespielt werden wird. Keine Spannung mehr, ob auch dieser Titel oder jener zum Repertoire dieser Nacht gehört, womit es losgehen und womit alles seinen lärmenden Abschluss finden mag. Die bange Frage ist eher: Kann man diese Musik, selbst wenn sie werkgetreu aufgeführt wird, noch einmal so erleben wie Ende der achtziger Jahre - vor Grunge, vor Techno, vor Postrock? Diese Frage stellt man sich womöglich nicht, wenn man Karten für eines der aktuellen Police-Revivalkonzerte gekauft hat, weil dabei von vornherein feststeht, dass man einen Abend im Gestern verbringen wird.

Im Falle von Sonic Youth geht es allerdings eher um einen ganz konkreten Akt von Vergegenwärtigung, darum, die Vergangenheit bewusst unter die Scheinwerfer des Heute zu stellen. Zum Vergleich fallen einem deshalb auch weniger die vielen fragwürdigen Wiedervereinigungen der letzten Jahre ein, von Queen über ELO bis zu den Eagles, sondern eher Appropriations-Projekte aus anderen Ecken, etwa Gus van Sants durchgepaustes "Psycho"-Remake oder Georg Baselitz' Remix seines eigenen Frühwerks.

Zwischen Lärm und Komposition

Aber vor der Rockkonzertbühne, beim Aufschrammen der ersten Gitarrengriffe, mit der ersten Welle des Wiedererkennens und den ersten Schauern des Lärms, gelten solche Referenzen erst einmal gar nichts. Obwohl Sonic Youth in Barcelona nur ein kleiner Teil des großen Primavera Soundfestivals sind, haben sich zu ihrem Auftritt doch so viele Fans zusammengedrängt, dass teilweise laut mitgesungen wird. Dabei scheint sich die Musik gegen eine nostalgische Ranschmeiße noch immer zu sträuben.

Gerade mal der erste Song "Teen Age Riot" taugt ansatzweise zur alternativen Hymne. Doch auch er strahlt schon etwas von der erhabenen Unnahbarkeit der gesamten Platte aus. Die verdankt sich der enormen inneren Spannung, dem abenteuerlichen Kampf zwischen Lärm und Melodie, zwischen Struktur und Dekonstruktion, den Sonic Youth seinerzeit entfesselte und mit offenem Ausgang aufs Album bannte. "Daydream Nation" enthält keine elegant abgerundeten Kompositionen. Immer wieder geraten verschiedene Elemente grob aneinander und versuchen sich gegenseitig niederzuringen. Manchmal steigt eine Melodie aus dem Chaos auf, dann wieder bricht sie spontan zusammen und macht einem Sturm von Feedback und anderen Gitarren-Manipulationen Platz.

Seite 2: Die Dramaturgie des Rockkonzerts und der Glaube an den Glauben an sich selbst.

Dieses gewaltige Hin und Her zwischen ausgreifendem Lärm und gut geschnürter Komposition war damals neu. "Daydream Nation" bedeutete für die Band selbst den Übergang von einer unzugänglicheren No-Wave- und Noisephase hin zu einer Integration des Songformats - und war für viele Hörer ein entschieden zeitgenössisches Werk, weil zwei zentrale, aber oft selbstgenügsame Richtungen der Rockmusik mit erheblicher experimenteller Energie zur Fusion getrieben wurden.

Der Fluch der frühen Schlüsselwerke

Unmittelbar bevor das Album damals im Studio entstand, hatten Sonic Youth eine Reihe von Konzerten gegeben, in denen sie auf Grundlage des voraussichtlichen Materials improvisierten. Diese Improvisationen haben unüberhörbar zum Charakter der Platte beigetragen. Dadurch wird das aktuelle Auftrittsmodell allerdings doppelt kurios. Denn um dieses zum Teil herbeiimprovisierte Album heute hochleben zu lassen, müssen sich die Musiker plötzlich strikt ans Drehbuch halten. Man merkt, dass ihnen das selbst komisch vorkommt.

"Wir haben nun die Plattenseite drei erreicht", sagt Thurston Moore zwischendurch mit einem Ton, als wäre er sein eigener Conférencier. Und Lee Ranaldo sekundiert: "Seite drei beginnt mit . . ." Ein wenig scheinen sie sich wie die Sklaven ihres eigenen Meisterwerks zu fühlen. Auch für sie sind ja fast 20 Jahre vergangen, in denen die Band beständig geschrieben und veröffentlicht hat.

Die neue Deluxe-Doppel-CD-Version von "Daydream Nation", die Mitte des Monats erscheinen wird, füllt ja auch keine klaffende Lücke in einem versiegenden Ausstoß, sie ergänzt bloß dessen Kontinuität. Und wer Sonic Youths Tourneeplan anschaut, stellt fest, dass mehr als die Hälfte ihrer Konzerte in diesem Jahr nach normalem Schema verlaufen, ohne die Selbstverpflichtung aufs frühe Schlüsselwerk.

Zeitgenössischeres Zeug

"People pay to see other people believe in themselves", hat die Bassistin Kim Gordon einmal über das Format Rockkonzert gesagt: Die Menschen bezahlen dafür, anderen Menschen dabei zuzusehen, an sich selbst zu glauben. Diese Frage ist bei so einem Konzept-Konzert besonders delikat. Denn trotz der festehenden Dramaturgie will man davon überzeugt sein, dass die Rocker da oben jede Rockergeste auch wirklich gerade neu erleben - und nicht etwa nur gefällig nachinszenieren.

Und dann will der zahlende Zeitzeuge noch an etwas anderes glauben: dass die Begeisterung, die er wirklich neu erlebt, nicht nur nostalgisch, sondern abermals zeitgenössisch ist. In "Eric's Trip", einem der flirrendsten Stücke der Platte, heißt es: "We can't see clear/ but what we see is allright/ we make up what we can't hear/ and then we sing all night." So in etwa ist es gewesen.

Und jenseits der Dramaturgie des geschlossenen Werks galt im Übrigen weiterhin die Dramaturgie des Rockkonzerts. Das Publikum will eine Zugabe; die Band kommt zurück. Und Thurston Moore sagt: "Okay, wir können noch ein paar Sachen spielen - zeitgenössischeres Zeug halt." Und auch das geht gut.

Der Kampf zwischen Lärm und Melodie wird weiter geführt, nach wie vor mit denselben Waffen, wenngleich nun viel routinierter und etwas weniger kräftezehrend. Die entscheidende Schlacht, das heroische Patt dagegen datiert aus dem Jahr 1988. Das haben die Sieger von damals erneut bewiesen und in einer feierlichen Zeremonie frisch besiegelt: im Juni 2007.

"Sonic Youth Performing Daydream Nation" am 21. Juni in München auf dem Tollwood Festival und am 27. Juni in Berlin in der Columbiahalle.

© SZ vom 19.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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