Wichtigster britischer Literaturpreis:"Danke, Mama!"

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Kiran Desai hat ihre berühmte Mutter überholt. Die indische Autorin gewann schon mit ihrem zweiten Roman den renommierten Man-Booker-Prize. Sie ist die jüngste Preisträgerin, die es jemals gab - und gibt sich doch bescheiden.

Christopher Stolzenberg

Eigentlich wäre dieser Augenblick genau richtig für eine tolle Geschichte. Eine solche Vorlage bekommt man nicht zweimal, um aus dem Schatten der berühmten Mutter herauszutreten. Kiran Desai, Tochter der indischen Schriftstellerin Anita Desai, saß vor einigen Tagen im Göttinger Rathaus vor etwa 300 Leuten. Da war sie bislang nur für den Preis nominiert und hatte gerade ihre erste Lesung außerhalb der Frankfurter Buchmesse gehalten.

Jetzt darf sie wirklich stolz sein - Kiran Desai mit ihrem aktuellen Buch "The Inheritance of Loss", das auf Deutsch als "Die Erbin des verlorenen Landes" im Berlin Verlag erschienen ist. (Foto: Foto: AFP)

Jetzt galt es nur noch die Fragen des Publikums zu überstehen. Schon wandte sich der Moderator an die junge Autorin: Man kenne ja die Konflikte, die oftmals die Kinder berühmter Autoren mit ihren Eltern auszufechten hätten. "Was sagt eigentlich ihre Mutter zu ihren Büchern?"

Wichtigstes Werk der englischsprachigen Gegenwartsliteratur

Da lächelte die Inderin verlegen und suchte einige Sekunden nach den richtigen Worten, als hätte sie die Frage nicht erwartet. Eigentlich gebe es ja nichts Besonderes zu erzählen. "Meine Mutter ist für mich da, ruft mich jeden Tag an, sie kocht für mich", sagt die 35-jährige. Sie sei eben die jüngste in der Familie. So einfach sei das. Keine Lobeshymnen, keine spektakulären Anekdoten. So unprätentiös geht eine der wichtigsten Autorinnen der aktuellen indischen Literatur mit ihrem Talent und ihrer Herkunft um. Damit könnte es nun vorbei sein.

Seit Dienstag Abend hat Kiran Desai allen Grund auf sich stolz zu sein, denn sie ist die jüngste jemals ausgelobte Trägerin des international renommierten Man-Booker-Prizes geworden. Mit der Auszeichnung wird jedes Jahr das wichtigste Werk der englischsprachigen Gegenwartsliteratur mit 50.000 britischen Pfund geehrt.

Sie zeigte sich überrascht und glücklich bei der Preisverleihung und dankte ihrer Mutter: "Ich habe an diesem Buch so oft in ihrer Gesellschaft geschrieben, dass es sich beinahe wir ihr Buch anfühlt." Auf den ersten Blick nur einfache Worte, die aber doch tiefer gehen sollen. Denn Anita Desai wurde seit 1980 schon dreimal erfolglos für den Man-Booker-Prize nominiert. Ihre Tochter hat es dagegen gleich beim ersten Mal mit ihrem zweiten Roman "Die Erbin des verlorenen Landes" geschafft.

Seit der ersten Auslobung 1969 wurde erst vier andere Autoren aus Indien diese Ehre zuteil - der spätere Literatur-Nobelpreisträger V.S. Naipaul (1971), Ruth Prawer Jhabvala (1975), Salman Rushdie (1981) und als erste indische Frau bisher, Arundhati Roy (1997).

Anders als die Autorin von "Der Gott der kleinen Dinge" ist Kiran Desai weniger politisch, wenngleich sie beide die Globalisierung als ihr Hauptthema entdeckt haben. Die diesjährige Preisträgerin nimmt aber keine US-Präsidenten aufs Korn und übt sich in Kritik, sie blickt vielmehr in die zerrissene Seele der indischen Gesellschaft.

Leben in drei Ländern

Hauptfigur im Roman von Kiran Desai ist wie bei ihrer Mutter Anita Desai eine Frau. Allerdings weitet die Tochter ihren Blick auf mehr als nur den Aspekt der weiblichen Emanzipation in einem patriarchalen Indien. Mit Hilfe der anderen Figuren aus "Die Erbin des verlorenen Landes" führt die Autorin auf eine respektvoll zurückhaltende Weise ihren Leser an die Kolonialgeschichte Indiens, den religiösen Fanatismus, das ungerechte Kastenwesen und das Scheitern in der Migration heran. Dadurch entsteht ein vielschichtiges Gesellschaftsporträt der Gesellschaft auf dem Subkontinent.

Insgesamt liefert die Schriftstellerin einen überschaubaren, und doch präzisen thematischen Fächer, der die Klammer bildet um das viel versprechende Leben in der Fremde und der ungeklärten Identität der Menschen in dem Staat mit seiner Milliardenbevölkerung. Kurz: ein hervorragendes Buch, das die Auszeichnung wirklich verdient hat.

Das Leben in mehreren Welten ist Kiran Desai nicht fremd. Insofern mag der Roman ein Stück weit autobiografisch sein. Die Autorin wurde 1971 in Indien geboren und wuchs in einer hinduistischen Familie auf. Mit fünfzehn Jahren, nach der Trennung ihrer Eltern, wanderte die junge Autorin zusammen mit ihrer Mutter nach Großbritannien aus.

Heute studiert sie an der Colombia Universität und lebt gleichzeitig noch in England und in Indien. Sie gilt als europäisierte Asiatin und trägt gleichzeitig Indien und den Westen in sich. Schon in ihrer Kindheit las sie die klassischen englischen Autoren, wie etwa Jane Austen, und fing bald an, auf Englisch zu schreiben. 1998 erschien schließlich ihr Erstlingswerk "Hullabaloo in the Guava Orchard".

Zwischen den Sprach-Welten wuchs in Kiran Desai eine pragmatische Haltung, mit der sie heute die Gretchenfrage der indischen Literatur beantwortet: Ist Englisch, die Sprache der einstigen Kolonialmacht, nicht ein fremdes literarisches Transportmittel für die Gedanken und Gefühle der Inder?

Diese Diskussion sei sie leid, sagt Kiran Desai auf Nachfrage in Göttingen. "Englisch ist für mich die einzige Sprache, in der ich mich ausdrücken möchte." Die Sprache sei für sie wie ein Werkzeug, um Kunst zu schaffen. Und schließlich sei selbst Hindi kein Stück authentischer, wenn sich mehr als eine Milliarde Inder auf allein achtzehn Hauptsprachen geeinigt hätte.

Doch wird dieser Augenblick der einzige während der Lesung in Göttingen bleiben, an dem sie mit ihrer Überzeugung so deutlich im Rampenlicht steht. Viel lieber scheinen ihr die Momente im direkten Kontakt mit den Menschen zu sein, wie etwa beim anschließenden Signieren. Sie nimmt sich Zeit - etwas zu viel vielleicht - und hört zu. Ohne Allüren und angenehm unprätentiös - offenbar ihr Erfolgsrezept.

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