Wettbewerbsbeiträge in Cannes:Pool Position

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Das ganze Filmfest ist nur ein Computerspiel. Und am Ende wird alles nur Willkür gewesen sein - die Filme von Gus Van Sant, François Ozon und Nuri Bilge Ceylan laufen im Wettbewerb.

SUSAN VAHABZADEH

(SZ v. 19.05.2003) - Irgendwo sitzt jemand und bewegt mit dem Cursor Menschenmassen die Croisette auf und ab und in die Eingänge des Festivalpalasts, setzt die Spielfiguren für die rote Treppe jeden Abend neu zusammen und lädt gelegentlich neue Filme ins System. Und manchmal greift er zur falschen Diskette, und es flimmern Dinge über die virtuellen Leinwände, die aus einem ganz anderen Spiel stammen.

Filmräkeln: Ludivine Sagnier am "Swimming Pool" des François Ozon (Foto: N/A)

Solche Dinge gehen einem durch den Kopf, wenn man eine Flut von Bildern verwalten soll, die aus unterschiedlichen Galaxien zu stammen scheinen. Es gibt mindestens zwei Versionen vom Wettbewerb in Cannes, und eine dritte Spielebene - die Stadt und das Meer, das unbeeindruckt in der Sonne glitzert, während das echte alte Europa sich vom Rand her ins Bild hereinfrisst. Auf der rue d'Antibes, der Einkaufsstraße, stehen mindestens ein halbes Dutzend Ladenlokale leer, das müssen die ersten Anzeichen sein, dass es wirklich noch eine richtige Welt gibt, jenseits der Hügel, irgendwo.

Gus Van Sants "Elephant" kommt definitiv aus der Welt hinter den Hügeln, seine Geschichte ist ratlos und traurig. Dabei hat Van Sant eine wunderbare Methode gefunden, sich einer Geschichte zu nähern, die tatsächlich passiert ist: dem Amoklauf an der Columbine High School. Damit hat er endlich für Gesprächsstoff gesorgt in Cannes, denn sein Film verweigert auf jegliches Warum die Aussage. Aber dieses Spiel mit dem Zufall ist jedenfalls verstörend - und so meisterhaft gemacht, dass man es ernst nehmen muss. Gus Van Sant erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven von der letzten Viertelstunde, bevor zwei Jungs in einer amerikanischen High School das Feuer auf ihre Mitschüler eröffnen. "Elephant" folgt ein paar Schülern, wie sie sich durch das Gebäude bewegen, einander begegnen - und so unentwirrbar, wie die Begegnungen und die sich kreuzenden Wege sind, bleiben auch alle Erklärungsversuche, warum so etwas geschieht. Den Tätern gilt die einzige Rückblende, aber Gus Van Sant erzählt von ihnen dann doch nicht mehr als von den anderen, sieht allen Erklärungsversuchen beim Scheitern zu.

Seine Täter sind schwul und spielen Beethoven - das hat mit der Tat an sich soviel zu tun wie Marilyn Manson. Sie ballern auf dem Bildschirm herum, mit einem merkwürdig monotonen Computerspiel, das garantiert keine Ähnlichkeit hat mit irgendwas, was tatsächlich auf dem Markt ist. Das empfindet man als Zuschauer als unbefriedigend - es ist wohl ein urmenschliches Bedürfnis, irgendeinen Ansatzpunkt zu finden dafür, wie man Mord verhindert. Nur hat Gus Van Sant natürlich recht: Nichts von den Dingen, die man über die echten Amokläufer weiß, kein Detail, das über den Schützen von Erfurt bekannt wurde, taugt wirklich als Erklärung für das, was diese Kids getan haben. Am Ende ist es vielleicht die Summe von allem, was ihnen je widerfahren ist, was sie dazu gebracht hat - oder nichts davon.

"Elephant" ist meisterlich inszeniert - die Bewegungen der Kamera spiegeln Van Sants Versuche, den Kern der Geschichte einzukreisen, die Zufälligkeit und Willkür, mit denen am Ende geschossen wird. Seine Fahrten durch die Schule lassen die Kids wie Videospielfiguren wirken - und genauso haben die Täter sie vielleicht auch gesehen. Dennoch wohnt "Elephant" doch etwas Kaltes inne, es fehlt ihm jenes Etwas, das die Emotionen zum Schwingen bringt. Vielleicht gerade weil er so klug ist und so kunstvoll.

Auch François Ozon betreibt in "Swimming Pool" ein Verwirrspiel, aber eher mit den Fiktionen: Charlotte Rampling als spröde Krimiautorin Sarah zieht sich in das französische Landhaus ihres Verlegers zurück, um ihre Schreibkrise in den Griff zu bekommen, und was ihr letztendlich dabei hilft, ist die Tochter des Hauses, die in der Nacht plötzlich auftaucht: Julie, ein ziemliches Flittchen, bringt jede Nacht einen neuen Liebhaber mit, und nach und nach entspinnt sich ein Krimi: Sarah fallen immer mehr Merkwürdigkeiten auf in Julies Verhalten, und plötzlich ist einer der Liebhaber verschwunden.

"Swimming Pool" hat mehr mit Ozons vorletztem Film "Unter dem Sand" gemeinsam als mit den überkandidelten "8 Frauen". Ozon hat, das merkt man hier erneut, eine Schwäche fürs Kino der Sechziger - Chabrol hatte er hier im Sinn oder "Blow Up". Im Grunde geht es um die Mechanismen der Fantasie, und so genau man auch hinschaut, man kommt ihm nicht auf Schliche. Dennoch: "Swimming Pool" gehört definitiv zu jenen Filmen, die umso mehr Spaß machen, je weniger man über sie weiß. Vielleicht geht es hier am ehesten um einen künstlerischen Prozess und darum, wie kreativ Wahnsinn ist - hier kommen die verschiedenen Versionen von Cannes ins Spiel.

François Ozon und Gus Van Sant kommen sichtlich vom selben Planeten. Nach ganz anderen Gesetzen funktioniert dagegen der türkische Beitrag "Uzak" - "Lointain" heißt der Film im Wettbewerb, und er kommt wirklich aus der Ferne. Nicht in dem Sinne, dass er auf fremdem Territorium gedreht worden wäre - im Gegenteil, irgendwie kommt Istanbul im Schnee bei Nuri Bilge Ceylan ein wenig süddeutsch daher, einen wie den Fotografen Mahmut könnte es in jeder europäischen Großstadt geben, und überall dort kann es einem passieren, dass ihn ein arbeitsloses Landei heimsucht. Yusuf stammt aus seinem Dorf und nistet sich bei Mahmut ein, behindert ein paar Wochen lang sein Leben. Die Genauigkeit, mit der Ceylan Kleinigkeiten beobachtet, können einem schon sehr nahe gehen - wenn Mahmut in seiner Wut eine Taschenuhr sucht und den Eindringling in Nöte und unter Verdacht bringt, sie dann schamhaft zudeckt, als er sie findet.

Ceylan erzählt von der Unfähigkeit, anderen etwas zu geben: Mahmut kann seine Empfindungen nicht kommunizieren, er kommt meist nicht mal selbst an sie heran, und es dämmert einem, dass sich deswegen so ein Graben auftut zwischen der Welt eines Intellektuellen in Istanbul und der eines Arbeiters in einem türkischen Dorf. Und dahinter tut sich ein System auf, das weite Teile der Ordnung von Reich und Arm erklärt. Das ist vielleicht das schönste an dieser Bilderflut: dass sie funktioniert wie eine Fata Morgana, die willkürlich Momentaufnahmen einfängt - und dabei sogar in den Kopf einer Krimiautorin sehen kann und auf die Leinwand zaubert, was sie dort gefunden hat.

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