Werk der Wahl:Provokante Kurven

Lesezeit: 3 min

Die Filmproduzentin Regina Ziegler liebt die Skulptur "Mae West" von Rita McBride

Museen sind etwas sehr Schönes. Doch schöner noch ist für mich Kunst im öffentlichen Raum. Immer, wenn sie das Denken anregt. Lieber noch, wenn sie provoziert. Fast jeden Morgen fahre ich über den Berliner Rathenauplatz. Mitten drin stehen Wolf Vostells "Zwei Cadillacs" - zwei US-Straßenkreuzer in Zement eingemauert. Es gibt Tage, da finde ich die Idee des Künstlers schrecklich. An andern Tagen finde ich sie toll. Wenn ich in Chicago bin, sehe ich, wenn irgend möglich, im Loop nach den Skulpturen. Sie sind ein Kontrast zu Glas und Beton. Wenn ich an Hannover denke, sehe ich die Nanas von Niki de Saint Phalle vor mir, die reichlich für beides stehen, für Ärger und Entzücken. Und in München ist es - ja wie soll ich dieses Kunstwerk jetzt nennen? Ein Gebilde? Ein Phänomen?

Mae West hat es nicht von Anfang an geheißen. Die Künstlerin Rita McBride hat für diese über fünfzig Meter hohe Plastik den Allerweltsnamen Turm gewählt. Erst als man in ihren Augen zu sehr über Material und Technik geredet hat, schlug sie den Namen einer Frau vor, die wahrlich provoziert hat: Mae West. Eine Diva des 20. Jahrhunderts, eine Schauspielerin, die am Broadway ebenso erfolgreich war wie in Hollywood-Filmen, für die Sex nichts war, was man öffentlich nicht sehen durfte. Ich denke mir, dass Rita McBride auch daran gedacht hat. Dieser Name war auch eine Antwort an die vielen Kritiker - unter ihnen auch der Ex-Oberbürgermeister Christian Ude - die sich zu Bezeichnungen wie "Eierbecher" und "Kühlturm" verstiegen hatten.

Mae West hat im Volksmund viele andere Namen. (Foto: Catherina Hess)

Klar, wer wollte und wer will, der konnte und kann dieses "Gebilde" so sehen. Manche Anwohner sprachen sogar von einem "Badehocker". Solche Reaktionen sind für mich die Pointe dieser Plastik, dass jeder sich, ohne rot zu werden, sehr Verschiedenes dabei denken darf. Ich finde den Namen Mae West nahezu genial. In diesen Stäben, die sich mittendrin in einer Taille bündeln, sehe ich sofort einen üppigen weiblichen Körper, genau den, mit dem Mae West mit ihrem Publikum fast achtzig Jahre gespielt hat. Vielleicht ist die Plastik ein bisschen weniger aufdringlich als das Original. Aber sie ist immer noch provokant genug. Sie will, dass man sie deutet. Dass man in ihr etwas sieht. Für mich sind es die elegant geschwungene Linien, denen das Auge folgt, ein ausbalanciertes, transparentes Gebilde, ja, ein regelrechter Hüftschwung, mitten im Strom des Verkehrs, der ja ein Kreisverkehr ist: eine Rundung im Runden. Und ich gebe gerne zu, dass es auch Mae West gewesen ist, die mich angeregt hat, eine Reihe mit dem Titel "Erotic Tales" zu riskieren.

Mae West, 1893 im Norden Brooklyns geboren (sie hatte übrigens eine deutsche Mutter) und 1980 in Hollywood gestorben, hat ähnlich wie dieses Kunstwerk das Establishment gegen sich aufgebracht. In den 1920er-Jahren hat man sie wegen Missachtung der öffentlichen Moral in Manhattan ein paar Tage ins Gefängnis gesteckt. Ein Meinungspapst wie der Zeitungsmacher Randolph Hearst hat seinen Blättern verboten, sie zu erwähnen. Sie war für ihn, den Spätpuritaner, die Fleisch gewordene Obszönität.

"Was soll ich dann tun, aus dem Fenster gucken?" - Regina Ziegler, 72, denkt nicht an den Ruhestand. (Foto: Carsten Sander/oh)

Aber sie hat sich von solchen Totschweigern nicht beeindrucken lassen. So wenig wie manche andere. Immerhin hat sie mit den Großen aus Hollywood Filme gemacht, mit Cary Grant, mit Marlene Dietrich, mit James Stewart. Meistens Kassenschlager. Das geht mir durch den Kopf, wenn ich diese aufgetürmten Stäbe sehe, wenn ich mich daran erinnere, was alles passiert ist, bevor dieses Kunstwerk sich mit den öffentlichen Raum verbunden hat. Mae West in Manhattan und in Hollywood hat das amerikanische Bürgertum provoziert. Nun provoziert das Kunstwerk Mae West am Effnerplatz in München vor aller Augen, auch ein wenig gebändigt, ein wenig abgeklärter, das bayerische Bürgertum. Deshalb zieht es meine Blicke immer wieder an. So wie die Skulpturen in The Loop in Chicago. So wie die zwei Cadillacs auf dem Rathenauplatz in Berlin. So, wie es Kunst im öffentlichen Raum tun sollte.

© SZ vom 02.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: