Werk der Wahl:Die Frequenz der Schläge

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Radiomoderator Jörg Seewald bewundert die Haltung Matthias Grünewalds und sein Bild "Die Verspottung Christi"

Meine künstlerische Menschwerdung verdanke ich tatsächlich meinem Kunstlehrer, der in der Oberstufe viele Stunden darauf verwandte, uns Hieronymus Bosch nahezubringen. Bosch - ein Freak, ein Outlaw, vielleicht ein Irrer? Nach dem Abi führte mich mein erster Reise-Interrail-Trip nach Madrid in den Prado, Bosch-Bilder live bestaunen. Der Rest der Stadt konnte mir gestohlen bleiben. Erst später wurde mir klar, dass es zu diesem expressiven Surrealisten ein bayerisches Pendant gab, einer, der aus der Tiefe seiner Seele alles dem Ausdruck seiner Bilder unterordnete, der sich lieber vom Gerichtsvollzieher suchen ließ als für gutes Geld reiche Mäzene zu malen, der so weit hinter seine Kunstwerke zurücktrat, dass er sie nicht einmal signierte. Kurz: Der Mann, den wir Matthias Grünewald nennen, hatte Haltung.

Eines seiner rätselhaftesten und wahnsinnigsten Werke befindet sich in der Alten Pinakothek München. "Die Verspottung Jesu" entstand im Auftrag von Johann von Kronberg 1504 als Erinnerung an dessen 1503 verstorbene Schwester Amalie. Grünewald war da erst um die 30 Jahre alt. Genaues weiß man nicht, weil sowohl um Geburt als auch Tod des Meisters sich die Welt nicht besonders kümmerte. Er hat jedenfalls mit Dürer gemalt, dem einige seiner unsignierten Bilder posthum zugeschlagen wurden, bevor Anfang des 20. Jahrhunderts der Grünewald-Hype losbrach.

Der Gedemütigte, seine sadistischen Folterer und Umstehenden, die kaum eingreifen - Grünewald zeigt sie alle im Gemälde "Die Verspottung Christi". (Foto: bpk/Bayerische Staatsgemäldesammlungen)

Im Gegensatz zu Dürer interessierte Grünewald, der wahrscheinlicher Mathis Gothart-Nithart hieß, nicht die mathematische Genauigkeit der Proportionen. Dafür verwandte er viel mehr Aufmerksamkeit für die innere Zeichnung seiner Personen. Niemand weiß, welcher Teufel Grünewald ritt, als er sich die Verspottung Christi nach dessen Gefangennahme als Sujet auswählte. Es gab dafür in der Kunstgeschichte kein Vorbild. Wenn die Folterknechte dem gefangenen Jesu die Augen verhüllen und ihn mit geknoteten Stricken schlagen, sogar mit den bloßen Fäusten auf ihn eindreschen und dabei höhnen: "Sag uns doch, wer dich gerade schlägt", ist das kaum auszuhalten. Ganz am Rande aber flötet ein Folterer und schlägt zugleich die Trommel.

Musik als Folter? Jesus, der ganz ruhig sitzt, keine Abwehrhaltung einnimmt und so dem hektisch-hysterischen Treiben um ihn die Luft nimmt, wird den Rhythmus, der die Frequenz der Schläge vorgab noch brutaler und intensiver gehört haben. Das weiß jeder, der im Dunkeln schon Musik gehört hat. Eigentlich ist Musik mein Lebenselixier, ich vermesse sie ja sogar wöchentlich auf Ego FM. Wer sie in ihr Gegenteil verkehrt und mit Ihrer Hilfe foltert, wie die US-Army im Vietnamkrieg ihre Gefangenen mit Jimi Hendrix traktierte oder zuletzt mit Metallica auf Guantanamo (mit begeisterter Billigung durch Gitarrist James Hetfield) begeht aus meiner Sicht eine Todsünde.

Der Journalist Jörg Seewald, Vater von drei Töchtern, moderiert seit neun Jahren mittwochs (20 Uhr) auf egoFM "Die Vermessung der Musik". Gerade ist sein Buch "Beweg Dein Hirn" zusammen mit dem früheren FC Bayern-Kreativtrainer Matthias Nowak erschienen. (Foto: oh)

Grünewald sah das offenbar genau so. Der Folterer mit dem Strick ist mit rattenhafter Physiognomie ausgestattet, die aus dem Kinn wachsende Flöte verleiht dem Musiker am linken Bildrand mephistophelische Züge und der Mann, der noch nicht so recht weiß, ob er mitfoltern soll und daran vorsorglich von einem Nachbarn gehindert wird, trägt die bräsig-gemeinen Züge von Otto Dix' Figuren. Man sagt, Grünewald, dessen Isenheimer Altar Weltruhm erlangte, sei der letzte Gotiker gewesen. Ich sage, er hat alles vorweggenommen: (Hyper-) Realismus, Surrealismus, Expressionismus, Symbolismus.

Aber all das wäre nichts ohne die Seele. Der gewaltige Schläger in der Bildmitte verdreht in anatomisch unglaublicher Weise seinen Arm. Egal. Nur so wird die Brutalität klar, mit der Jesu erniedrigt wird. Der blutet dafür realistisch aus Mund und Nase auf Bart und Tuch. Mit seinem feingliedrigen, duldenden Körper symbolisiert er so etwas wie das weibliche Prinzip in dieser seelenlosen, rein männlichen Folterwelt. Auch das ist ein zeitloses Statement und ein Hinweis für uns 2017 so kurz vor Weihnachten.

Solange die Sanierung der Alten Pinakothek noch andauert, ist "Die Verspottung Jesu" nur Online auf www.pinakotheken.de zu sehen. Von 1. Juli an soll das Gemälde physisch wieder zugänglich sein. Andere Arbeiten großer Meister sind es schon derzeit: Alte Pinakothek, Barer Str. 28, Di, 10-20 Uhr, Mi-So, 10-18 Uhr

© SZ vom 21.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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