Werk der Wahl:Der Zauber des schönen Scheins

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Florian Seidel ist fasziniert von einer Truhe von Baccio Pontelli im Bayerischen Nationalmuseum

Als wir Kinder waren, verbrachten wir mit meinem Vater viel Zeit im Bayerischen Nationalmuseum, dessen Freundeskreis er viele Jahre vorsaß. In unserer Familie wird erzählt, meine Großmutter - die Gattin des ehemaligen Ministerpräsidenten Hanns Seidel - hätte einmal den Vater zur Rede gestellt, dass meinem Bruder und mir der Anblick des abgeschlagenen Hauptes des Holofernes, des durchbohrten Sebastian oder des gehäuteten Marsyas bleibende Traumata zufügen würden. Von meinem besorgten Vater befragt, was uns denn im Museum am meisten beeindrucken würde, haben wir wohl einstimmig und mit größter Überzeugung angegeben, es wäre der Lift. Und somit durften wir noch viele weitere Stunden und Tage im Nationalmuseum verbringen.

Auch deshalb war es nicht schwer, dort mein "Werk der Wahl" zu finden. Die um 1470 wohl von Baccio Pontelli gestaltete Truhe mit perspektivischen Holzintarsien. Die Intarsien zeigen drei halbgeöffnete Gitterfenster, die dem Betrachter einen Blick ins Innere der Truhe suggerieren sollen.

Hinter den Gitterfenstern verbergen sich Musikinstrumente, ein Schachbrett und verschiedene Kästchen. Die Truhe gehörte einst Maria Jakobäa, der Gemahlin Herzog Wilhelms IV. von Bayern. Meiner Vorstellung nach einer Art Märchenfigur also. Zentralperspektivische Darstellungen waren, als die Truhe entstand, noch vergleichsweise jung und müssen den damaligen Betrachter ähnlich fasziniert haben, wie es heute Virtual-Reality-Brillen tun, wenn sie uns in künstliche Traumwelten versetzen.

Intarsienarbeiten als perspektivische Illusion: Baccio Pontelli schuf seine Truhe um 1470. (Foto: Bayerisches Nationalmuseum)

Was aber wohl soll der "fake view" in die Truhe der Prinzessin verbergen? Sie möchte musizierend und schachspielend gesehen werden. Ihre wahre Identität gibt sie nicht preis. Ihr Geheimnis bleibt verborgen. Der Schöpfer der Truhe verstrickt uns in ein geheimnisvolles Verwirrspiel zwischen Neugier, Imagination und Wirklichkeit. Gleichzeitig verzaubert er die zweidimensionale Oberfläche der Truhe in eine räumliche Anmutung.

Wir stellen uns die Prinzessin vor, wie sie in einem Grüppchen von engsten Freundinnen vor ihrer Truhe steht, um das Geheimnis ihres Inhaltes zu lüften. Wir stellen uns das so selbstverständlich vor, wie wir glauben, die Intarsien ermöglichten uns den Blick auf die Geheimnisse der Truhe.

In Wahrheit entsteht dieser Zauber lediglich durch die geschickte Anordnung von Linien, die wir merkwürdiger Weise als Raum erkennen. Darum gefällt mir Baccio Pontellis Truhe so gut. Weil dieses Möbel so schlau mit der Art und Weise unserer Wahrnehmung und Auffassung spielt, uns mit gleichsam vertrauten Mustern verwirrt und auffordert, Dinge, die wir sehen oder zu sehen glauben, in unserem Kopf neu zu ordnen - und dabei vielleicht etwas zu entdecken, das über unsere gewohnten Auffassungen hinausreicht.

Florian Seidel vertritt das Genfer Bankhaus Pictet in München. Für seine Gedichte erhielt er 2004 den Wiener Werkstattpreis für Lyrik. Unlängst ist sein jüngster Lyrikband "Mund zu Mund" im Sieveking Verlag erschienen. (Foto: oh)

Es war nur der Lift, der uns als Kindern im Bayerischen Nationalmuseum so gut gefiel. Aber stellen Sie sich vor, welche Geschichten er erzählen könnte. Verbindet er doch im Nationalmuseum nicht einfach nur Stockwerke, sondern Jahrhunderte, er ermöglicht Zeitreisen und den direkten Übergang vom bäuerlichen Untergeschoss in höfische Prunkräume. Ich könnte da lange weitererzählen. Aber versuchen Sie es doch demnächst selbst einmal mit einem Besuch im Bayerischen Nationalmuseum.

Bayerisches Nationalmuseum, Prinzregentenstraße 3, Di-So 10-17 Uhr, Do bis 20 Uhr

© SZ vom 08.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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