Werk der Wahl:Abstimmung mit den Füßen

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Irmin und Benedict Rodenstock schätzen Bruno Wanks Bodenskulptur "Argumente"

Mein Vater, Rudolf Rodenstock, der der Kriegsgeneration angehörte, erzählte mir schon vom "Drückeberger-Gassl". So heißt im Volksmund die Viscardigasse, die hinter der Feldherrnhalle zwischen Residenz- und Theatinerstraße verläuft. Hierhin wichen während der NS-Zeit all jene aus, die nicht am Ehrenmal für die Gefallenen des Putschversuchs von 1923 vorbeigehen wollten, wo zur Huldigung der sogenannte "Deutsche Gruß" verlangt wurde.

Der Putschversuch war von der bayerischen Polizei blutig niedergeschlagen worden, mit mehreren Opfern auf Seiten der Rechten und vier toten Polizisten. Schon bald nach der Machtergreifung nutzte das NS-Regime das hier Geschehene, um ein von SS-Soldaten bewachtes Ehrenmal für die gefallenen Mitstreiter zu errichten.

Jahrelang kamen ich und meine Frau Irmin an dieser Stelle vorbei, ohne wirklich auf das Kunstwerk aufmerksam zu werden, das hier im Pflaster eingelassen ist: Die Arbeit "Argumente" des 1961 in Marktoberdorf geborenen Künstlers Bruno Wank. Das änderte sich nach einer Führung durch Kunst im Öffentlichen Raum, an der wir beide teilnahmen.

Auf 18 Meter Länge hat der Bildhauer und Bronzegießer Wank hier 440 Bronzesteine in S-Form verlegt. Anfangs unterschieden sich die rohen Bronzeklötze in Form und Farbe kaum von den umliegenden Pflastersteinen und waren nur für den Betrachter erkennbar, der von dem Kunstwerk wusste. Mit der Zeit wurden die Bronzesteine jedoch durch alle, die - oft auch achtlos - darüber hinweggingen, abgeschliffen, so dass sie heute als glänzende Leuchtspur quer durch die Gasse erscheinen.

Die Bronzespur erinnert an alle, die vor der Feldherrnhalle nicht den "Deutschen Gruß" entrichten wollten und deshalb auf die Viscardigasse auswichen. (Foto: Florian Peljak)

Was 1995 zunächst nur als temporäre Arbeit gedacht war, blieb. Das Erinnerungswerk etablierte sich schnell in der öffentlichen Wahrnehmung, und so stand eine Entfernung nie wirklich zur Diskussion. 2003 kaufte die Stadt München dem Künstler die Arbeit schließlich für 100 000 Euro ab.

Was uns beide an dem Werk sehr fasziniert, ist die gedankliche Komplexität der Arbeit, die auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist. Überhaupt muss man sie erst einmal entdecken. Doch dann eröffnen sich immer tiefere Sinnbilder. Ein politisches Werk eben, was viel zu selten geworden ist in unserer Gesellschaft.

Das Werk hat für mich als Historiker auch eine hohe emotionale Komponente: Was ging im Kopf jener vor, die hier entlanghuschten, die eigentlich Mutigen, die aber abschätzig als "Drückeberger" bezeichnet wurden?

Wank, ein Schüler Olaf Metzels, will nicht nur an eine missliche historische Begebenheit erinnern. Wer sich näher mit der Arbeit beschäftigt, dem eröffnen sich weitere Interpretationen. So geht es um die Bewusstmachung des Gehens. Das Gehen ist beim Menschen nicht zuletzt durch die häufige Ausführung eine stark automatisierte Handlung, die per se kaum Erinnerung erzeugt. Anders verhält es sich jedoch, wenn das Gehen wiederholt und unter bestimmten, einprägsamen Umständen erfolgt. Als "Argumente" schließlich wurden von der Anarchoszene der späten Sechzigerjahre Pflastersteine bezeichnet, die gegen die Staatsgewalt durch die Luft geworfen wurden.

Irmin Rodenstock Beck ist Architektin, ihr Mann Benedict Rodenstock Experte für die Entwicklung von Start-Ups. Sie engagieren sich unter anderem bei den Freunden im Haus der Kunst, dem Kunstclub 13 sowie der Messe für Digitale Medienkunst "Unpainted". (Foto: Florian Peljak)

In der Viscardigasse wird, mehr als ein Betrachter, ein "Fußgänger" erwartet, der sowohl zur äußeren Betrachtung als auch zur inneren Beobachtung bereit ist.

© SZ vom 26.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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