Wall Street Journal:Mehr Auflage, mehr Klicks

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Online-Abos, kurze Texte - alles für die Auflage? Das Wall Street Journal kämpft um seinen Stil. Wurde so aber schon mal zur auflagenstärksten Zeitung der USA.

Thomas Schuler

Im Mai 2007 befragte der amerikanische Fernsehsender Fox seinen Besitzer Rupert Murdoch zu dessen Ambitionen, das Wall Street Journal zu kaufen. Murdoch sprach über einen Mann, den kaum einer der Zuschauer kannte: Bernard Kilgore, den einstigen Chefredakteur des Journal und späteren Chef des Dow-Jones-Verlags, in dem die Zeitung erscheint. Kilgore habe den modernen Journalismus erfunden, sagte Murdoch und unterstrich damit die Bedeutung der Zeitung, für die er später mehr als fünf Milliarden Dollar zahlte.

Das Wall Street Journal war Rupert Murdoch einst fünf Milliarden Dollar wert. (Foto: Foto: AP)

Rupert Murdoch gilt als einer, der sonst wenig Respekt vor anderen zeigt, wenn er auf dem Weg ist, seine Macht auszubauen. Anders in diesem Fall. Kilgore war tatsächlich der Mann, der den Grundstein legte für die heutige Stellung des Wall Street Journal als auflagenstärkste Tageszeitung in den USA. Mehr als 15 Jahre lang lag das Journal an zweiter Stelle, hinter der eher boulevardesken Tageszeitung USA Today. Seit sie 17 Prozent der Auflage verlor, nimmt das Journal nun wieder Platz eins ein, sofern man gedruckte und elektronische Auflage zusammenzählt.

Kostenpflichtige Online-Abos

Beim Journal scheint diese Rechnung gerechtfertigt, weil auch Online-Abos bezahlt sind. Die Gesamtzahl der Online-Abonnenten liegt bei mehr als einer Million, die gemeinsame Print- und Online-Auflage des Journal in den USA beträgt 2024269 Exemplare. Damit legte das Journal als einzige überregionale Zeitung zu, in einem Umfeld, in dem andere zehn Prozent an Auflage einbüßten.

Das Fundament dafür hat Barney Kilgore gelegt. In einer Umfrage in den USA wurde Kilgore vor einigen Jahren zum bedeutendsten Wirtschaftsjournalisten des vergangenen Jahrhunderts gewählt. Das Fachblatt Columbia Journalism Review verglich seinen Platz in der Geschichte des Journalismus mit Sigmund Freuds Rolle in der Entwicklung der Psychoanalyse. Ein "ruheloses Genie" nennt ihn der Journalist Richard J. Tofel in einer 2009 erschienenen Biografie.

Kilgore wurde 1929 eingestellt, berichtete aus San Francisco und Washington und arbeitete von 1932 an in New York. Er hat das Journal seit seiner Ernennung zum Chefredakteur (Managing Editor) 1941 im Alter von 32 Jahren bis zu seinem Tod 1967 dominiert wie kein anderer und die Auflage von 33.000 auf 1,1 Millionen Exemplare erhöht. Er empfand die Titelseite oft als so langweilig wie eine Grabplatte. Richard Tofel sagt, eine wichtige Neuerung Kilgores war, dass er festlegte: Das Journal schreibe nicht für Banker, sondern für normale Bankkunden. Statt von oben herab zu berichten, erklärte er Lesern wirtschaftliche Zusammenhänge in Briefform.

Kurze Texte, knappe Infos

Dem Geschäftsmann Murdoch gefällt, dass Kilgore auch kürzere Texte wollte. Aber Kilgore lag vor allem an Verständlichkeit und Analyse. Da das Journal oftmals Zweitzeitung war, sollte es die Nachrichten des Tages durch Hintergrundberichte einordnen. Die über viele Jahre prägendste Einführung war eine tägliche Seite-eins-Geschichte, die über das Feld einer Wirtschaftszeitung weit hinausging: der so genannte A-Hed über ein scheinbar völlig abseitiges Thema, wie das Geschäft mit Videos über Frauen, die rauchen.

Folgt das Journal noch dem Geist von Kilgore? Murdochs Verständnis vom Zeitungsmachen als News-Geschäft sei antiquiert, sagen Mitarbeiter. Kilgore dagegen untersagte seinen Reportern, die Relevanz von Nachrichten durch die Wörter "heute" oder "gestern" zu rechtfertigen. Er war überzeugt, dass Leser vor allem erklärt haben wollen, was Nachrichten für die Zukunft bedeuteten. Er führte die Tradition des anekdotischen Erzählens ein, die das Journal perfektionierte.

Murdoch könne damit nichts anfangen, sagen Reporter des Journal. Er sei dafür als Leser zu ungeduldig, ein Nachrichtenjunkie, der keinen Wert lege auf die Vermittlung komplexer Zusammenhänge oder darauf, neben der Geschichte der Sieger auch die der Verlierer und Opfer zu erzählen.

Paul E. Steiger, bis 2007 Chefredakteur, verlangte von seinen Leuten Geschichten "mit moralischer Kraft". So entstand die zehnteilige Serie "China's Naked Capitalism", die 2007 den Pulitzerpreis erhielt. Darin untersuchte das Journal die wahren Kosten des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas und berichtete über Menschen, deren Arbeitstag nach 15 Stunden noch nicht zu Ende ist, über Kinder mit erhöhten Bleiwerten im Blut und den einsamen Kampf eines Arztes gegen Umweltverschmutzung.

Solche investigativ untermauerten Erzählungen haben dazu geführt, dass der amerikanische Konsumentenanwalt Ralph Nader einmal bemerkte, das Journal sei die Zeitung, die am wirkungsvollsten über die dunklen Seiten des Wirtschaftssystems aufkläre.

Wie sich die Zeitung seit Murdochs Übernahme verändert hat, darüber gehen die Meinungen auseinander. Harold Evans, der als Chefredakteur der Londoner Sunday Times 1981 im Streit mit Murdoch ausschied, sagte dem Wochenblatt The Nation, Murdoch habe das Journal "stark verbessert".

Der Chefredakteur der New York Times, Bill Keller, dagegen erklärt, als Leser vermisse er die langen Reportagen und die ambitionierten investigativen Projekte. Vermutlich gefällt Keller auch nicht, dass das Journal seiner Times immer ähnlicher wird.Indem Murdoch lange Stücke streichen lässt, verliere das Journal seine Seele, sagen ehemalige Reporter und Kritiker. Ein besonders gemeiner Vergleich lautet: Das Journal werde USA Today ähnlicher. Zwar hat Murdoch investigative Recherchen nicht eingestellt. Aber indem er und sein Chefredakteur mehr Geschichten forderten, fehle den Reportern Zeit für Recherche und große Projekte, heißt es.

Was Kilgore in den USA versuchte, das wollte auch das Wall Street Journal Europe: die Hinwendung zur breiten Leserschaft. Beim Start 1983 wählte man Brüssel als Stützpunkt der Zentrale. Fred Kempe, der langjährige Chefredakteur, sagt, man wollte damals weniger englisch sein als die Financial Times, zudem sei es Brüssel aus "leichter, gegenüber den einzelnen Ländern neutral zu sein. Man hat einen weiteren Blick."

Europa-Ausgabe im Tabloid-Format

Unter Murdoch ist die europäische Ausgabe heute auf Großbritannien fixiert. Im Sommer kam Patience Wheatcroft, die ehemalige Chefredakteurin des Sunday Telegraph, an die Spitze der Europa-Ausgabe. Die Zentrale zog nach London um. Was das für die inhaltliche Ausrichtung bedeutet, das beantwortet die neue Chefin nicht. Dem Vernehmen nach hat sie den Fokus geändert und betrachtet das europäische Festland als zweitrangig.

Die weltweit 400 Reporter des Journal berichten vor allem für die US-Ausgabe, aber Kempe vermittelte den Kollegen in New York das Gefühl, Brüssel werde das Washington von Europa werden. Wichtige Entscheidungen der Wettbewerbsbehörden (wie im Fall Microsoft) schienen das zu belegen. Kempe durfte viel Geld ausgeben und ihm kam gelegen, dass der Holtzbrinck Verlag im Konkurrenzkampf mit Gruner+Jahr einen Partner für das Handelsblatt gegen die Financial Times Deutschland suchte. Doch als der Erfolg ausblieb, wechselte Kempe 2006 nach Washington zur Denkfabrik Atlantic Council. Holtzbrinck beendete die Kooperation, ehe das WSJE profitabel wurde.

Früher berichteten sieben Korrespondenten über die EU, Europa und die Nato, heute sind es nur mehr drei. Weil man 18 Millionen Dollar sparen wollte, wurde vor Murdochs Übernahme sogar diskutiert, die Europa-Ausgabe einzustellen. Stattdessen wurde auf das kleinere Tabloid-Format umgestellt, um Produktionskosten zu sparen. Die europäische Ausgabe wird inzwischen weitgehend in New York redigiert, die Auflage stagniert: Kempe strebte eine Verdopplung auf 140.000 Exemplare an. Zwischenzeitlich lag sie bei 100.000, inzwischen ist sie auf 80.000 gerutscht. Kempes europäische Träume wirken wie aus einer anderen Zeit, aus der Zeit Kilgores.

Reportagen nichts als Mythos?

Heute hat die Europa-Ausgabe nicht mehr normale Bankkunden im Blick, sondern eine Elite aus kaufkräftigen Bankern und Managern. Offiziell wird das nicht gesagt; aber zahlreiche Kolumnen für diese Klientel bestätigen es. Das Journal verfolgt also in den USA und in Europa unterschiedliche Strategien: In den USA lebt die Tradition Kilgores. In Europa prägt Murdoch den Stil. Der hat jetzt entschieden, den Druck der US-Ausgabe in London einzustellen. Eine gute Nachricht für das Wall Street Journal Europe, denn sie bedeutet, das die Europa-Ausgabe weiter bestehen wird.

Ausgerechnet Fred Kempe sagt heute, das WSJE hätte schon viel früher von Brüssel nach London umziehen sollen, weil London nun mal die europäische Finanzhauptstadt und deshalb für eine Wirtschaftszeitung bedeutsamer sei. Das Verschwinden der ausführlich erzählten Reportagen störe ihn nicht, sagt Kempe, solange das Journal weiterhin relevante investigative Recherchen unternehme und drucke. Die Reportagen dagegen seien ein Mythos, der sich selbst erhalten habe. Murdochs Journal sei lebendiger und lesbarer. Der Dow Jones Verlag habe damals seine Strategie zu früh aufgegeben, in Europa eigenständigen Journalismus zu machen, sagt Kempe. Vielleicht habe der neue Besitzer Murdoch ja mehr Geduld.

© SZ vom 12.11.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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