Vorschlaghammer:Bröckelnde Masken

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Die meisten Pop-Stars zeigen nach außen nur noch eine durchchoreografierte Show. Spannend wird es eigentlich erst, wenn diese Fassade fällt und der echte Mensch dahinter hervorblitzt

Von Jakob Biazza

Der Kollege hat vor kurzem einen Gedanken geäußert. Beim Mittagessen war das und ich bin nicht sicher, ob er richtig ist: Er, der Kollege, fände Künstler gerade eigentlich nur noch in den Momenten interessant, in denen sie aus ihren Rollen herausfallen. Wenn die Maske bröckelt. Sido, der einem ORF-Reporter eine in die Gosch'n haut. Buschido, der dem Mafia-Clan, mit dem er gemeinhin assoziiert wird, Geld zahlen muss. Brüche. Außeralltägliches. Dieser Kram. Der Rest sei doch nur noch durchchoreografierter, langweiliger Mist. Ich mag den Gedanken. Weil stimmt schon: Man stelle sich - nur zum Beispiel - mal vor, Alec Empire, der als Frontmann von Atari Teenage Riot (Do., 5. Nov., Backstage) immer noch einer der wenigen glaubwürdig radikal linken Musiker dieses Landes ist, würde irgendwann während des Konzertes auf einen Boxenturm klettern. Wahrscheinlich hätte er da schon eine Stunde lang seine manisch aufwühlenden Parolen in den Moshpit gebrüllt - dass wir alle Sklaven von Kapital, Staat und Digitalisierung seien. Dass nur Wut uns vor den Nazis retten könne. Er stünde da also. Von hinten hämmerte mit 200 Beats per minute dieses digital zerfräste Breakcore-Gewitter. Und dann sagt er: "Hihi, reingefallen. Eigentlich arbeite ich seit Jahren für Google. Die wollten rausfinden, was die Leute nach so einem Konzert im Internet suchen." Künstlerisch wäre das natürlich eine Tragödie. Aber eine geile Geschichte gäbe es schon.

Mir persönlich reicht es zur Zeit trotzdem, Künstlern dabei zuzusehen, wie sie versuchen, ihre Rollen ihrem Alter anzupassen. Ist im Pop ja brutal schwierig. Bei Fettes Brot (17. Nov., Zenith) zum Beispiel mäkeln die Leute in den sozialen Netzwerken nur noch rum, dass der vielleicht etwas zu dick kandierte Electro-Pop, den die Hamburger jetzt machen, mit dem Party-Rap von einst nicht mehr viel zu tun habe. Was ja stimmt. Andererseits: Du kannst ja nicht dein Leben lang "Meh' Bier" fordern. Sido (11. Nov., Zenith) ist bei dem Thema natürlich auch spannend. Noch gar nicht so lange her, da landeten Songs des Berliner Rappers noch auf dem Index. Und jetzt? Diese diffuse Sorgenlyrik, die staatstragenden Geigen, die Fahnenschwenker-Refrains von Leuten wie Andreas Burani oder Adel Tawil: Sido ist tatsächlich der Marius Müller-Westernhagen des Deutsch-Rap geworden. Bisschen langweilig ist das schon. Aber eben schon eine sehr altersgerechte Rolle. Und man muss auch mal sagen: Reportern vom ORF eine in die Gosch'n hauen - irgendwie kann das ja auch jeder.

© SZ vom 02.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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