Vorschlag-Hammer:Weh dir, Kassandra

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Der Seher ist eine ambivalente Figur. Einerseits ist da sein scharfer Blick in die Zukunft, anderseits zweifelt sein Publikum gerne an seinen Visionen

Von Antje Weber

Der Beruf des Sehers hat keinen allzu guten Ruf. Ist ja auch kein Wunder: Kann man aus dem Flug von Vögeln, den Eingeweiden von Gänsen, den Linien von Händen wirklich die Zukunft herauslesen? Das wird nicht erst seit dem Asterix-Band "Der Seher", in dem ein Scharlatan fast alle gallischen Dorfbewohner mit süßen Prophezeiungen einlullt, allgemein bezweifelt.

Die Figur der Kassandra ist eine ähnlich ambivalente Variante des Sehers. In der antiken Mythologie galt sie als tragische Heldin; verflucht vom Gott Apollon, den sie zurückgewiesen hatte, sollte sie Unheil zwar ahnen können, doch in ihren Warnungen unerhört bleiben: "Du sprichst die Wahrheit, aber niemand wird dir glauben", so fasste es die Schriftstellerin Christa Wolf in ihrer berühmten Erzählung "Kassandra" zusammen. Was also hat es zu bedeuten, dass das literarische Gegenprogramm zur Münchner Sicherheitskonferenz im Literaturhaus unter dem Motto "Das Kassandra-Phänomen" läuft? Ist hier die Vergeblichkeit allen Mahnens, selbst von Nobelpreisträgern wie Wole Soyinka (Freitag, 17. Februar) und Herta Müller (18. Februar), bereits inbegriffen? Mag wohl sein. Denn, um es mit Wolfs Kassandra zu sagen: "Gegen eine Zeit, die Helden braucht, richten wir nichts aus."

Eine Kassandra spricht trotzdem. Und was sie weissagt, hat nicht nur mit dem Morgen, sondern auch mit dem Heute zu tun, wie Christa Wolf einst in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen erklärte: "Sie ,sieht' die Zukunft, weil sie den Mut hat, die wirklichen Verhältnisse der Gegenwart zu sehen." Kassandra akzeptiert dabei, dass ihre Analysen die Menschen wütender machen als die Taten selbst, ja "dass wir lieber den bestrafen, der die Tat benennt, als den, der sie begeht". Der Schriftsteller Wole Soyinka, zum Beispiel, landete in Nigeria im Gefängnis. Auch der syrische Dichter und Journalist Yamen Hussein wurde in seiner Heimat als regimekritisch verfolgt und verhaftet. Heute lebt er als PEN-Stipendiat in München; am 9. März wird er im Literaturhaus zusammen mit dem schon sehr viel länger hier im Exil lebenden Lyriker Said die Stimme erheben.

Mahnend äußern sich auch Frido und Christine Mann in ihrem gemeinsamen wissenschafts- und gesellschaftskritischen Buch "Mehr Licht. Die Einheit von Geist und Materie in der Quantenphysik", das sie am 23. Februar im Literaturhaus vorstellen werden. Sie beginnen bei den astronomischen Deutungen antiker Priester - und enden beim "Lernziel" eines "Homo Empathicus". Ob man im Wissenschaftsbetrieb ihre Worte hören will? Ob auch die Politiker das Wehklagen von Schriftstellern zu schätzen wissen? Wie sagt Kassandra bei Christa Wolf: "Mit meiner Stimme sprechen: das Äußerste. Mehr, andres hab ich nicht gewollt."

© SZ vom 17.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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