Vorschlag-Hammer:Maßvoll mit den Massen

Lesezeit: 2 min

Darf man die Sau rauslassen, wenn andere in Not sind? Diese Frage führte ja schon zu Forderungen, das Oktoberfest abzublasen. So weit gehe ich nicht. Hätte man die Gaudi immer verboten, als das Leid groß war, hätte die Wiesn seit 1810 kein einziges Mal stattfinden dürfen

Von Michael Zirnstein

Gerade komme ich vom Presserundgang zum 182. Oktoberfest. Da genossen Reporter das Privileg, neue Fahrgeschäfte und kulinarische Spezialitäten schon vor dem Ansturm der Massen auf die Massen zu testen. Es wäre jetzt ein Leichtes, von meinem ersten Wiesnbier 2015 zu berichten (süffig, was sonst!), von Don Strauss und seinen Steilwandfahrern im Original Motodrom (tollkühn!), vom Ausblick aus 30 Metern Höhe auf der Café-Terrasse des Tower Event Centers (erhaben!), von meiner Beinahe-Ohnmacht in der Affen-Schaukel Konga (Speib!), und dann könnte ich Sie auf famose Konzerte im Herzkasperlzelt hinweisen (etwa Attwenger, 25. September).

Bei all dem zwickte mich aber mein Gewissen. Darf man die Sau rauslassen, wenn andere in Not sind? Diese Frage führte ja schon zu Forderungen, das Oktoberfest abzublasen. So weit gehe ich nicht. Hätte man die Gaudi immer verboten, als das Leid groß war, hätte die Wiesn seit 1810 kein einziges Mal stattfinden dürfen. Aber den Vorschlag, geflüchteten Menschen zwar nicht in den vollgekotzten Zelten, wohl aber nach deren Abbau in Unterkünften auf der Theresienwiese eine Bleibe auf Zeit zu geben, finde ich gut. Erst seit die Asylbewerber mitten in der Stadt sichtbar sind, kümmert sich die Mehrheit der Bürger um sie.

Waren es früher einzelne Künstler wie Hans Ratz von Strom & Wasser, die unermüdlich auf unwürdige Zustände in Flüchtlingsheimen hinwiesen, drehten sich zuletzt so ziemlich alle Gespräche mit Musikern darum. Trotz ihres pubertären neuen Albums "Teenager vom Mars" machten sich etwa die Hip-Hopper Fettes Brot (17. November, Zenith) im Interview erwachsene Gedanken über Mitbürger im Hamburger Bonzenviertel Harvestehude, die sich nicht entblödet hätten, zu tönen, man könne diesen armen Flüchtlingen doch den Reichtum vor ihrer Nase nicht zumuten. Die Sängerin Mieze von Mia (7. Oktober, Backstage) will ihren Song "Biste Mode" als Einladung an alle verstanden wissen: "Zu mir kannste immer wieder kommen . . ." Und die drei Burschen von Folkshilfe (6. Oktober, Strom), der neuen "Kampftruppe" des Münchner Hubert-von-Goisern-Managers Hage Hein, erzählten, wie sie ganz selbstverständlich immer wieder Flüchtlinge bei sich daheim schlafen ließen und mit ihnen durch Linz zögen: "Damit die auch mal Spaß haben."

Auch schon zu Zeiten, als Flüchtlingshilfe nicht hip war, gab es den Rage Against Abschiebung. Das 14. Festival seit 1996 (2. Oktober, Feierwerk) ist so stark besetzt wie lange nicht. Unter anderem treten Textor, Das Weiße Pferd, Candelilla und Chris Imler auf, sowie die Oberammergauer Kofelgschroa gemeinsam mit der New-Orleans-Brassband Magnetic Ear. Genau diese Super-Kombination ist übrigens auch im Herzkasperlzelt zu bestaunen (1. Oktober). Dem bleibt nur der Wunsch des Zweiten Bürgermeisters Josef Schmid beim Wiesnrundgang hinzuzufügen, die Not beim Feiern nicht auszublenden, gastfreundlich zu sein und auf das extra eingerichtete Spendenkonto einzuzahlen (siehe: oktoberfest.eu). Sozusagen ein Sauf-Soli - gute Idee!

© SZ vom 18.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: