Vorschlag-Hammer:Lesepause

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Ein Menschenleben ist viel zu kurz für all die guten Bücher, und von den schlechten wollen wir hier gar nicht anfangen. "Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen?", fragte sich schon Karl Kraus verzweifelt. Ja, wer da eine Antwort wüsste

Von Antje Weber

Leben heißt scheitern. Zum Beispiel an den eigenen Ansprüchen. Zum Beispiel an jenem Anspruch, möglichst alles an Literatur zu lesen, was relevant ist, relevant war, relevant werden könnte oder von so vielen Menschen als relevant eingeschätzt wird, dass man es ganz gerne selbst überprüfen würde. Geht aber nicht. Ein Menschenleben ist viel zu kurz für alle guten Bücher, und von den schlechten wollen wir hier gar nicht anfangen. "Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen?", fragte sich schon Karl Kraus verzweifelt. Ja, wer da eine Antwort wüsste.

Längst zum Beispiel - um noch ein kleines bisschen weiter zu jammern, weil das so schön entlastet - sind die Herbst-Vorschauen der Verlage verschickt, sie liegen in Griffweite neben meinem Schreibtisch. Doch wenn ich sie durchblättere, beginnen die Buchstaben bald zu tanzen; so unglaublich viele Meisterwerke geschätzter und unterschätzter Autoren werden hier angekündigt, wer soll sich da entscheiden? Dazu verheißen erste Programm-Mails von Veranstaltern bereits Großes für den Herbst, wo doch all das Große des Frühjahrs und Sommers noch kaum verarbeitet ist. Im Literaturhaus zum Beispiel geht es im September Schlag auf Schlag wieder los mit prominenten Namen und höchst unterschiedlichen Werken: Die indische Bestsellerautorin und Bürgerrechtlerin Arundhati Roy präsentiert nach langer Pause einen neuen Roman mit dem Titel "Das Ministerium des äußersten Glücks" (13. September), dicht gefolgt von Alt-Meister Uwe Timm mit dem neuen Roman "Ikarien" über die deutsche "Stunde Null" 1945 (14. September); ihm wiederum folgt die junge britische Feministin Laurie Penny und verkündet kämpferisch eine "Bitch Doktrin" (15. September).

Da hilft wohl nur, tief durchzuatmen und sich erst einmal eine Sommerpause zu verordnen. In der könnte man lesen, ohne Zweifel. Man könnte es auch sein lassen und einfach leben. Obwohl das natürlich kein Gegensatz sein muss. Lesen und dabei zugleich angenehm leben lässt es sich in den Augustwochen zum Beispiel auf einer schattigen Bank des Münchner Nordfriedhofs. Am besten zieht man dort Jess Jochimsens Roman Abschlussball aus der Tasche. Der in München geborene Kabarettist und Autor hat einen ziemlich melancholischen Roman über einen Einzelgänger geschrieben, der sich trotz seiner Jugend sehr alt fühlt. Nur an seiner Trompete findet er Halt - und in den Trauerfeiern auf dem Nordfriedhof, die er musikalisch begleitet. Es ist ein leises Buch über einen Menschen, der nur mit Mühe den eigenen Ton findet. Eine Geschichte über den Tod und das nicht immer einfache Leben; eine Geschichte, die auf befreiende Weise davon erzählt, dass Scheitern dazugehört.

© SZ vom 26.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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