Vorschlag-Hammer:Last der Emotionen

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Die Ära von Intendant Johan Simons ist nun wirklich bald unwiederbringlich vorbei, und es gibt nur noch wenige letzte Gelegenheiten, die Ergebnisse seines Tuns zu bestaunen

Von Antje Weber

Man stelle sich vor: die Bühne der Kammerspiele, auf der gerade Schauspieler Kristof Van Boven ausgiebig seinen röchelnden Kollegen Benny Claessens in den Schwitzkasten genommen hat. Um ihn dann loszulassen, zur Rampe zu gehen und sinngemäß folgende Sätze ernst ins Publikum zu sprechen: "Wir sind hier, um Ihnen die Last der Emotionen abzunehmen. Damit Sie zum Beispiel an den Füller denken können, den Sie heute verloren haben." Großes Gelächter.

Das Theater als Ort, der uns die Last der Emotionen abnimmt, damit wir derweil im Kopf unseren Alltag ordnen können? Ein lustiger Gedanke, der natürlich etwas schief hängt: Denn die wie immer großartigen Kammerspiel-Schauspieler in René Polleschs "Gasoline Bill" nehmen den Zuschauern nicht stellvertretend die Gefühle ab, sondern sie erzeugen sekündlich neue - vor allem Freude. Da am vergangenen Samstag die allerallerletzte Aufführung des Erfolgsstücks war, mischte sich in die Heiterkeit selbstverständlich auch ein bisschen Melancholie. Denn die Ära von Intendant Johan Simons ist nun wirklich bald unwiederbringlich vorbei, und es gibt nur noch wenige letzte Gelegenheiten, die Ergebnisse seines Tuns zu bestaunen. Zum Beispiel den in seiner formalen Strenge sehr stimmigen Onkel Wanja an diesem Freitag, 24. Juli. Am Samstag, 25. Juli, ist dann mit dem bereits ausverkauften Hiob endgültig Schluss - und die Emotionen beim anschließenden Abschiedsfest kann man sich schon so ungefähr ausmalen.

Natürlich kann nicht nur das Theater uns mehr oder weniger kathartisch Emotionen abnehmen oder besser: schlummernde, womöglich verdrängte Gefühle wachrufen. Besonders geeignet erscheint mir die Musik: Der eine weint, wenn er Mahlers Auferstehungssinfonie hört. Die andere trällert fröhlich mit, sobald ein Lied von Julieta Venegas im Radio läuft. Was das Kino angeht, so fürchte ich mich heute noch, wenn die Rede auf Hitchcocks Grusel-Schocker "Die Vögel" kommt (oder wenn, wie kürzlich in Ramersdorf geschehen, beim Radfahren eine Krähe an meinen Kopf prallt - ein Zeichen dafür, dass diese zähen neuen Stadtmitbewohner tatsächlich bald die Herrschaft übernehmen? Oder nur dafür, dass ich zum Friseur gehen sollte, da Krähen meinen Haarschopf mit einem Nistplatz verwechseln?).

Doch ich schweife ab. Also: Auch die Literatur ermöglicht uns natürlich, Emotionen stellvertretend zu durchleben. Bei einem Harper-Lee-Abend zum Beispiel, am 29. Juli im Literaturhaus, werden Text, Musik und Film sowie das eine oder andere geistige Getränk zusammen für hoffentlich wohlige Gefühle sorgen. Und dann . . . ist erst einmal Sommer-Pause fast aller Kulturorte und -verpflichtungen. Das ist nicht nur schlimm: Die Last der Emotionen kann man ja auch sehr schön am Badeweiher abladen, oder indem man eine Stunde lang einen Baum betrachtet oder das Gesicht eines nahen Menschen. Im Herbst halsen wir unsere Gefühle dann gerne wieder den Theatern und anderen Institutionen auf. Um dort endlich an die Füller zu denken, die wir gar nicht verloren haben.

© SZ vom 23.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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