Vorschlag-Hammer:Bücher verschreiben

Lesezeit: 2 min

In seinem Roman "Der Wörterschmuggler" erfindet Natalio Grueso einen Mann namens Horacio, der Lesern Bücher verschreibt wie ein Arzt Rezepte. Welche Werke würde der Bücherverschreiber wohl in diesen Tagen empfehlen?

Von Antje Weber

Sich in diesen Tagen von der Realität abzuschotten und in das Reich der Literatur zu flüchten, ist seltsam. Als ich vergangene Woche sieben Romane vom Büro nach Hause schleppte, fand ich das angesichts der drängenden Themen in dieser Stadt, diesem Land geradezu obszön. Ganz davon abgesehen, dass der Versuch, sieben Bücher am Wochenende zu lesen, eine jener Aktionen ist, die im Wiederholungsfall geradewegs in die Burnout-Klinik führen, wo man dann wie Uschi Glas in "Fack ju Göhte" etwas Hübsches für die Kollegen töpfern kann.

Doch es gibt nun einmal viele parallele Universen, und die der Literatur ist nicht die schlechteste aller möglichen Welten. Nicht zuletzt hilft sie, die Wirklichkeit zu verstehen - und zu ertragen. Das hat der spanische Autor Natalio Grueso, der am 17. September im Instituto Cervantes liest, gut erkannt: In seinem Roman "Der Wörterschmuggler" erfindet er einen Mann namens Horacio, der Lesern Bücher verschreibt wie ein Arzt Rezepte. Welche Werke würde der Bücherverschreiber wohl in diesen Tagen empfehlen, in denen in der literarischen Parallelwelt Münchens von sofort an wieder Hochbetrieb herrscht?

Lesern, die vor den Zumutungen der Wirklichkeit flüchten und sich lieber in eine mystische englische Welt mit Menschenfressern im fünften Jahrhundert beamen wollen, würde der Bücherverschreiber Kazuo Ishiguros "Der begrabene Riese" vorschlagen (16. September, Literaturhaus). Leser, die sich der Wirklichkeit stellen wollen, die jedoch gern weit weg sein darf, sind mit Richard Flanagans "Der schmale Pfad durchs Hinterland" gut bedient: ein düsterer Kriegsroman, biografisch beglaubigt, über australische Kriegsgefangene, die während des Zweiten Weltkriegs eine Eisenbahn durch den Dschungel Thailands bauen mussten (17. September, Lehmkuhl). Leser, die bei zynischen Witzen über die Rampen von Auschwitz nicht vor Scham versinken, werden sich bei Martin Amis' greller KZ-Satire "Interessengebiet" bestens amüsieren (18. September, Black Box im Gasteig). Wem leise Nachdenklichkeit im Umgang mit der deutschen Geschichte, der eigenen Biografie lieber ist, dem würde der Text-Verschreiber wohl "Jetzt die Gegend damals" von Büchner-Preisträger Jürgen Becker verabreichen (22. September, Seidlvilla). Und wo bleiben eigentlich die Frauen? Viel zu oft am Herd und im Hintergrund, wie Gertraud Klemm wütend in ihrem Roman "Aberland" konstatiert, der auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis steht (20. September, Stragula). "Der Wirklichkeitssinn!" stöhnt da die italienische Lyrikerin Anna Maria Carpi in einem Gedicht auf und fährt trotzig fort: "ich nicht, ich will träumen können" (17. September, Lyrik Kabinett).

Wer von so vielen und noch mehr Büchern und Lesungen zu Saisonbeginn überfordert ist, bei dem sollte ein Literatur-Arzt mit einer niedrigeren Wörter-Dosis beginnen. Am besten mit einer, die immerhin den Wirklichkeitssinn stärkt: der September-Ausgabe der Straßenzeitung "Biss" zum Beispiel. Selbst wer den ausgezeichneten Flüchtlings-Schwerpunkt darin gar nicht lesen sollte, macht mit nur 2,20 Euro einen kleinen Weltausschnitt besser: den des Verkäufers. Eine von vielen Gelegenheiten, die Wirklichkeit zu verändern, bevor wir weiterträumen.

© SZ vom 16.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: