Vorbericht:Wenn der Körper stottert

Lesezeit: 4 min

"Until Our Hearts Stop" ist die letzte Kammerspiele-Premiere der Ära Simons und die dritte Zusammenarbeit der Choreografin Meg Stuart und des Schauspielers Kristof Van Boven

Von Sabine Leucht, München

Es muss Liebe sein. Und der Schauspieler Kristof Van Boven nennt es auch so, wenn er von der Choreografin Meg Stuart erzählt. Sie ist seine eine "große Liebe"; Johan Simons ist "die andere". Auf der Suche nach dem Verletzlichen und Immer-schon-Vorgeschädigten im Menschen sind sie beide. Und einen besseren Weggefährten als den auch im Gespräch hinreißenden Belgier, der für seine Rolle als Natascha Kampusch in Simons "Winterreise" zum Nachwuchsschauspieler des Jahres 2011 gewählt wurde, kann man sich dafür nicht wünschen. Meg Stuarts "Until Our Hearts Stop", das nun in der Spielhalle Premiere hat, ist Van Bovens dritte Zusammenarbeit mit der amerikanischen Tanzverweigerin aus Berlin; nach deren Kammerspiele-Debüt "Built to Last" von 2013 und der Komödien-Dekonstruktion "It's Not Funny!", die 2006 bei den Salzburger Festspielen herauskam. Nun geht Simons letzte Saison an den Kammerspielen zu Ende, bevor er - mit Stuart im Gepäck - zu den Ruhrfestspielen Recklinghausen wechselt. Van Boven geht nach fünf Münchner Jahren ans Thalia Theater Hamburg.

Zwischen leiser Wehmut ("Hier läuft gerade Katja Bürkle vorbei. Das wird dort nie mehr passieren.") und stiller Vorfreude platzt jetzt noch dieser Ausnahme-Abend hinein. Wie um ein letztes Mal die Spartenvermischung zu bezeugen, die die Ära Simons über München brachte - und die Bereitschaft des Hauses, Gepflogenheiten eine Zeitlang über Bord zu werden. Eine viermonatige Probenzeit, die mit nichts beginnt außer der Gewissheit, dass man konzentriert auf ein - so Van Boven - "ehrliches" Ergebnis zusteuert, ist alles andere als Stadttheater-Routine. Eine Zeit zudem, in der auch Musiker und Bühnenbildner permanent anwesend sind und auch der Kopf des Ganzen nicht schon wieder halb in neuen Projekten steckt. Immerhin aber fordert der Apparat ein Bühnenbild vorab.

Auch wenn nicht jedes Detail davon den Probenprozess überlebt: Eine Schaumstoffwolke etwa hat sich bereits als überflüssig erwiesen in einem Raum, "in dem man sich klein fühlt und wie in einem Keller", sagt Van Boven. Einem Raum, "der uns zusammenhält" und auch ein paar Gemälde beherbergt, denn eine Inspirationsquelle für "Until Our Hearts Stop" war der Fall des greisen Kunst-Horters Cornelius Gurlitt und dessen unglaublicher Satz: "Mehr als meine Bilder habe ich nichts geliebt in meinem Leben." "Auf dem Weg", sagt Van Boven, "haben wir zwar Gurlitt als Person verloren, aber nicht das Obsessive, das im Sammeln liegt, im Alles-zugleich-und-jetzt-Wollen".

Der studierte Linguist ist vorsichtig mit allem sprechtheaterhaft Inhaltlichen, das die Website des Theaters mit vollen Händen austeilt: "Nachtclub" steht da, "Arena", "brodelndes Refugium"; und es wird von "optimistischen Versuchen, unmögliche Fristen einzuhalten" geraunt. Der 33-Jährige hingegen mag nicht zu einer Art Wiedererkennungs-"Quiz" verengen, was "eine wahnsinnige Assoziationsreise werden kann, wenn man sich nur hinsetzt und schaut". Ja, es gehe um das Verlangen, wie immer bei Stuart, die den Satz geprägt hat: "Every movement expresses desire". Und sonst? "Passiert das eine einfach nach dem anderen". Aber es passiert - "auch wenn manches wie Chaos aussieht" - keinesfalls irgendwie. Dass Stuart und die wechselnden Mitglieder ihrer Gruppe "Damaged Goods" (Schadware) nicht die Art von Tanz servieren, "bei dem Menschen unisono die Schwerkraft bekämpfen", dürfte hierorts weidlich bekannt sein, wo man dank Simons, Muffatwerk-Leiter Dietmar Lupfer und "Joint Adventures"-Chef Walter Heun schon fast alle ihrer eruptiven Seelen-Tänze gesehen hat. Zuletzt in ihrem sehr persönlichen Solo "Hunter". Für Kristof Van Boven ist es ein bisschen so, "als ob Meg an einer einzigen langen Produktion arbeite", einer Art "choreografischer Biografie, in der vieles wie Stolpern und Scheitern aussieht, aber Sehnsucht meint".

Die Tänzer Maria Scaroni und Jared Gradinger haben, wie Van Boven, schon zuvor mit Stuart gearbeitet. Einige der Mitstolpernden für die aktuelle Neuauflage ihres unendlichen Projekts (Leyla Postalcioglu, Neil Callaghan, Claire Vivianne Sobottke) hat Stuart bei Workshops in ganz Europa "gecastet". "Und dann hat sie uns sechs Performer mit den drei Jazz-Musikern um Paul Lemp zusammengebracht und nach zwei Monaten wieder nachgeschaut." Nun ja, nicht ganz. Wie auch in ihren Workshops arbeitet Stuart im Studio mit den Begriffen "Magie", "Intimität" und "Berührung". Die Performer haben nach Wilhelm Reich gestöhnt, und hinzugezogene Spezialisten "sind wie Geister so lange im Probenraum geblieben, bis die Produktion selbst sie verjagt hat". Zuletzt - und offenbar noch von einiger Rest-Präsenz - ein Zauberer, der davon erzählte, wie Zauberer-Geheimgesellschaften funktionieren.

Deren Codes und Regeln, sagt Van Boven, interessierten Meg, die lange nur beobachtet, und dann plötzlich beginnt, Abläufe zu strukturieren. "Denn sie ist die Person mit dem engsten Kontakt zu dem, was die Vorstellung will." Als Beobachterin "fokussiert sie auf das Unvermögen, die körperliche Form des Stotterns. Wenn der Tänzer frustriert ist, hat sie diese Bewegung sofort gesehen" und mit dieser "wahnsinnigen Gehirnkamera" fixiert, mit der sie nur Millisekunden dauernde Mikrobewegungen aufzeichnet, die dann drei Wochen später alle noch einmal ausprobieren sollen. Diese fragmentierten Bewegungen werden dann neu aneinandergeschnitten - ein Analyse- und Konstruktionsverfahren, das Stuarts erstes Solo von 1991 sogar im Namen trug: "Disfigure Study". Ähnlich verfährt sie auch mit der Musik, die hier eigentlich "sehr konkret" im Dialog mit der Bewegung entstanden ist, bis Meg einfällt, sie ganz woandershin zu "kleben".

Einen, der es gewohnt ist, Figuren zu entwickeln - auch wenn er den direkten körperlichen Einstieg jederzeit "achtstündigem Psychologisieren" vorzieht - sollte dies eher frustrieren. Statt dessen empfindet der sensible Alleskönner "das Implodieren-Dürfen im eigenen Körper" als "Geschenk und große Freiheit". So groß, dass er für die Arbeit mit Stuart, die ja noch immer auch mit "Built to Last" tourt, auf die Mitwirkung bei ganzen fünf Produktionen verzichtet hat. Es ist tatsächlich Liebe!

"Until Our Hearts Stop", Donnerstag, 18. Juni, 20 Uhr Spielhalle, Falckenbergstr. 1

© SZ vom 17.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: