"Von Dresden nach Davos":Nah am Leben

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Tanz als wiederkehrendes Motiv bei Kirchner - ein Farbholzschnitt von 1933. (Foto: Privatsammlung)

Eine Ausstellung mit Ernst Ludwig Kirchners Druckgrafiken in Aschaffenburg dokumentiert die stilistische Entwicklung des Künstlers

Von Florian Welle

Vom Leben gezeichnet": Wer wissen möchte, was mit dem gerne einmal leichtfertig dahingesagten Ausdruck wirklich gemeint ist, der sollte sich Holzschnitte von Ernst Ludwig Kirchner anschauen. Zum Beispiel "Bauernkopf Andreas". Aus einem scharfkantigen, tief gefurchten Gesicht blicken da zwei müde Augen zu Boden. Oder "Bäuerin mit Knaben am Tisch." Ihr hageres Gesicht mit der länglich-spitzen Nase erzählt von einem entbehrungsreichen Leben. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Jungen im Hintergrund, den die Bildunterschrift als Sohn der Frau ausweist. Im Gegensatz zu seiner Mutter blickt er den Betrachter frontal an: kindlich und voller Neugier.

Die beiden Arbeiten aus den Jahren 1917 und 1919 gehören zu einer insgesamt 53 Druckgrafiken umfassenden Privatsammlung, die derzeit im Kirchnerhaus Aschaffenburg zum ersten Mal in ihrer Gesamtheit einem Publikum vor die staunenden Augen geführt wird. Das Konvolut des Sammlers, der anonym bleiben möchte, umfasst Kirchners gesamtes Schaffen von seinen Dresdner Anfängen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Mitte der Dreißigerjahre. Nur wenig später wird sich der Künstler in seiner Wahlheimat Schweiz das Leben nehmen, körperlich erschöpft, psychisch zerrüttet. Nicht zuletzt durch die Kunde, die Nazis hätten weit mehr als 600 seiner Werke aus den deutschen Museen verbannt.

"Nirgends lernt man einen Künstler besser kennen als in seiner Graphik". Schreibt Kirchner unter dem Pseudonym L. de Marsalle in seinem 1921 in der Zeitschrift Genius publizierten Aufsatz "Über Kirchners Graphik", der hier erstmals als Faksimile im Katalog abgedruckt ist. Eine kleine Sensation, vor allem, da der Text von Kirchner mit 18 zum Teil ganzseitigen Abbildungen ausgestattet wurde, die man nun ganz in Ruhe studieren kann. Wolfgang Henze, ausgewiesener Kenner des Werks, weist im Katalogbeitrag allerdings zu Recht daraufhin, dass man gegenüber Kirchners in zahlreichen Schriften gemachten Äußerungen skeptisch sein müsse. Denn Kirchner versuchte, die Rezeption seines Werks durch seine Künstlertexte zu lenken. Was ihm durchaus gelang, auch noch weit über den Tod hinaus.

Trotzdem könnte obiges Zitat als Motto über der exquisiten Ausstellung stehen. Denn die chronologisch gehängten Exponate erlauben es, die künstlerische Entwicklung Kirchners seit ihren Anfängen exemplarisch nachzuvollziehen. Man vergleiche etwa nur den noch stark vom Impressionismus und seiner Ornamentik beeinflussten Holzschnitt "Vor den Menschen - Über den Köpfen der Philister" von 1905/1906 mit einer Arbeit wie der vier Jahre später entstandenen "Nackte und bekleidete Frau - Frauen im Atelier". Wo dort noch die Linie dominiert, liegt hier bereits der gestalterische Akzent auf der Fläche.

Ein Akzent, der mit der stetig zunehmenden Beherrschung sämtlicher druckgrafischer Techniken - insgesamt hat Kirchner im Laufe seines Lebens mehr als 2000 Holschnitte, Lithografien und Radierungen in äußerst kleinen Auflagen von drei, maximal sieben Exemplaren angefertigt - immer stärker werden wird. Gut zu sehen etwa auf dem Holzschnitt "Segelboote bei Fehmarn" (1914) mit ihren bildbestimmenden aufgeblähten Segeln ganz in Schwarz.

Was die Sammlung vielleicht am spannendsten macht: Man kann sie je nach Interesse unter diversen Gesichtspunkten durchstreifen. Stilistisch, wie eben angedeutet, chronologisch mit den Stationen "Brücke", Sommerfrische auf Fehmarn, Erster Weltkrieg und Aufenthalt im Sanatorium Kohnstamm. Schließlich ab 1917 die Schweizer Jahre.

Zuletzt lassen sich thematische Gliederungen vornehmen. Etwa, indem man sich auf die Bearbeitung des Themas Tanz fokussiert, das Kirchner stets fasziniert hat. Davon zeugen etwa die frühe Radierung "Tanzorgie" von 1906 ebenso wie das von ungeheurer Dynamik durchdrungene Blatt "Wigman-Tanzgruppe" von 1928. Höchst lohnend auch sein Studium von Menschen. Die bäuerlichen Porträts wurden eingangs genannt. Daneben sollte unbedingt noch eine Arbeit erwähnt werden, die Kirchners ganze Bitternis während der Kriegsjahre anschaulich werden lässt: "Zum Gedenken an Hugo Biallowons". Der Holzschnitt, der seinen 1916 bei Verdun gefallenen Freund in grober Schraffur zeigt, ist ein Epitaph, wie es sich schwärzer und verzweifelter kaum denken lässt.

Mit "Von Dresden nach Davos" fügt das Kirchnerhaus seinen ausgesuchten Kabinettausstellungen eine weitere hinzu. Sie wurde um einen Monat bis zum 14. Januar verlängert.

Von Dresden nach Davos. Holzschnitt, Radierung, Lithografie 1905-1934 , noch bis zum 14. Januar, Kirchnerhaus, Ludwigstraße 19, Aschaffenburg.

© SZ vom 14.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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