Vom Drang zur Perfektion:Wir Unvollkommenen

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Wir unzulänglichen Kreaturen: Michael J. Sandel schreibt ein Plädoyer gegen Perfektion und gegen Praktiken, die den Menschen optimieren sollen - mit einem Vorwort von Jürgen Habermas.

Oliver Müller

Ein Modebegriff in der aktuellen bioethischen Debatte ist "Enhancement". Darunter werden verschiedene medizintechnologische und pharmazeutische Anthropotechniken subsumiert, die nicht der Therapie dienen, sondern der "Optimierung" des Patienten oder des Kunden.

Das Doping im Sport gehört dazu wie die chemische Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit oder das Nachbessern der genetischen Ausstattung.

Die diese Praktiken bewertenden Bioethiker teilen sich, grob gesagt, in zwei Fraktionen. Die einen halten die Folgen und die Freiwilligkeit solcher Maßnahmen für die entscheidenden Fragen, die anderen denken, dass die Probleme tiefer liegen, nämlich in einer der menschlichen Natur widersprechenden Optimierungsanmaßung.

Ethik des Augenmaßes

Michael J. Sandel gehört zur zweiten Fraktion. Bekannt als Philosoph in Harvard und als Kommunitarist, war er Mitglied im von George W. Bush eingesetzten "President's Council on Bioethics", der 2003 eine Stellungnahme unter dem Titel "Beyond Therapy: Biotechnology and the Pursuit of Happiness" veröffentlicht hat.

Dort wurde die Neigung zur Selbstverbesserung unter anderem mit der Hybris des mit seiner natürlichen Ausstattung unzufriedenen zornigen jungen Manns Achill verglichen.

Sandel hat nun ein "Plädoyer gegen die Perfektion" geschrieben, in dem er an die Debatten in diesem Ethikrat anschließt.

Sandel argumentiert konservativ, doch ohne ähnlich düstere Vergleiche. Die Stärke seines Buches hängt mit einer seinen ethischen Grundüberzeugungen zusammen, die man Ethik des Augenmaßes nennen könnte.

Sandel schaut sich die Probleme an, nimmt das Unbehagen ernst und versucht aus den einzelnen Fällen das ethisch Bedenkliche freizulegen, einen Blick für das Fragwürdige zu kultivieren.

Dabei geht es ihm immer um ein umfassenderes Bild der Lage. So vergleicht er etwa den hohen leistungssteigernden Ritalin-Konsum von Schülern amerikanischer Schulen mit anderen Maßnahmen ehrgeiziger Eltern, die ihre Kinder schon früh auf das Leben in der Elite trimmen.

Symptombehandlung

Damit bedenkt er die tieferliegenden Ursachen für die pharmazeutische Leistungssteigerung, die schwerer zu bekämpfen sind; ein bloßes Ritalin-Verbot erscheint da wie eine Symptombehandlung.

Bei der Behandlung des Doping-Problems versucht er den "Geist" (das "telos") des Sportes freizulegen, der in einem Messen der Talente und Kräfte besteht, das durch Doping untergraben wird.

Bei den genetischen Verbesserungsversuchen sucht er den entscheidenden Punkt im Wesen des Eltern-Kind-Verhältnisses, das für ihn durch ein Einander-akzeptieren-wie-man-ist geprägt ist.

Die Versuche, heranzukommen an das, was uns Menschen als "natürlich" erscheint oder was wir als für unsere Lebensform "richtig" und "angemessen" beurteilen, sind wichtig, auch wenn es schwierig bleibt, hier normativ Verbindliches zu finden.

Problematisch werden die Argumente Sandels, wenn er auf religiöse Rückbindungen des Menschen verweist. So ist die zentrale ethische Kategorie für ihn die Erfahrung der "Gabe" und der aus ihr heraus zu lebenden "Begabung".

Der Mensch sollte gegenüber dem Gegebenen eine gewisse Dankbarkeit haben und auch eine "Offenheit für das Unerbetene" pflegen. Damit wird allerdings kaum etwas erklärt, weil die entscheidende Frage bleibt, welches Gegebene wir akzeptieren wollen und welches nicht.

Es gibt gute Gründe, vieles Gegebene wie Krankheiten, soziale Nachteile oder auch ein bloßes Unwohlsein ändern zu wollen. Das religiöse Einfärben des Gegebenen kann in jedem Fall nur der zweite Schritt sein.

Obwohl Jürgen Habermas in der Zukunft der menschlichen Natur den Wert des Gegebenen, des im aristotelischen Sinne Gewachsenen, stark macht, hält Sandel zwar nicht die Position, aber die Begründung für liberal und unzureichend.

Dezent distanziert

Habermas antwortet in seinem generösen Vorwort dezent distanziert: Sein Vorwort werbe lediglich darum, die Argumente zur Kenntnis zu nehmen und sei nicht der Ort, in die Diskussion einzusteigen. Das ist schade, denn gute anthropologische Argumente in der Bioethik sind rar und gerade in der Debatte um das "Enhancement" ist es wichtig, Überzeugungen über den Charakter der humanen Lebensform, die Rolle des Kontingenten, des gelungenen Lebens, aber auch die Selbstgestaltungsberechtigung philosophisch überzeugend zu formulieren.

Dazu gehört auch der Wert, den das Gewordene im Gegensatz zum Hergestellten für uns hat. Hier ist noch Klärungsbedarf und auch wenn es der religiös Musikalische manchmal einfacher hat, dürfen wir uns auf fromme Intuitionen nicht verlassen. Allerdings auch nicht auf die Selbstheilungskräfte des technologischen Fortschritts.

Michael J. Sandel: Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas. Berlin University Press. Berlin 2008. 175 S., 24,90 Euro.

© SZ vom 06.05.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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