Umstrittene Aktionskunst von Hermann Nitsch:Rasierklingen raus, Schmerzbekenntnis!

"Wenn mir morgen ein Kunstarsch sagt, dass Nitsch nicht im Museum funktioniert, dann reiß ich ihm seinen Dreitagebart aus dem Gesicht!" Ein Plädoyer für die Werkschau von Hermann Nitsch in Berlin.

Christoph Schlingensief

Der umstrittene Aktionskünstler Hermann Nitsch wird erstmals in Deutschland mit einer Retrospektive gewürdigt. Im Berliner Martin-Gropius-Bau werden bis zum 22. Januar 2007 Schlüsselwerke des Wieners gezeigt. Der 1938 geborene Nitsch entwickelte das "Orgien-Mysterien-Theater", bei dem er Elemente aus Musik, Theater und Performance zu liturgisch-religiösen Schlachtungs-Ritualen verbindet und an antike Mysterienfeste anknüpft. Der Aktionskünstler und Regisseur Christoph Schlingensief erklärt, warum einer wie Nitsch durchaus museumswürdig ist.

Hermann Nitsch

Szene aus Hermann Nitschs "Orgien-Mysterien-Theater".

(Foto: Foto:)

Kommen wir allmählich zum Ende. Kommen wir denen im Morgengrauen zuvor, die die Nacht dazu nutzen werden, alles in einen Topf zu werfen. Blutwurst ist Blutwurst, und Eintopf ist Eintopf. Erst mal muss klargestellt werden, dass es sich bei Nitsch nicht um eine blöde politische Aktion handelt.

Zweitens muss klargestellt werden, das Nitsch ein toller Typ ist, der gerne lacht und gerne isst, gerade höllische Hüftschmerzen hat und der es nicht mag, wenn er auf einfache Weise erklärt, was andere durch ihren vorauseilenden Rezeptionswahn zerstören wollen.

Weiter stelle ich fest: Ich bin kein Nitsch-Schüler und auch kein Jünger. Ein Großteil seiner Jünger sind mir ebenso suspekt wie die Komparsenfuzzis bei Paul McCarthys Cowboyfilmen anlässlich seiner Installation im Münchner Haus der Kunst 2005. Sie sind im besten Falle Arbeiter, so wie Nitsch auch, sie sind Zweifelnde, die etwas probieren, weil sie daran glauben, aber im schlimmsten Fall sind sie nur diese typisch deutschen Darsteller, die auch mal verrückt, pervers, provozierend sein wollen.

Hohes Lesegericht: Ich lege Wert auf die Tatsache, dass es hier, wie auf einem Bild Nitschs geschrieben steht, um "intellektuellen sakralen Masochismus" geht. Klar geht uns das nichts mehr an. Klar sind wir abgehärtet, durchgespült, aber Nitsch-Flecken sind schwer zu entfernen.

Sie sind auch nicht mit der Kindergartenformel "Zeig mir deine Wunde" zu verwechseln, aus der wir "Zeig mir deine Bremsspur" gemacht haben. Nitsch ist nicht mehr reinzuwaschen. Er hat sich zugesaut, zugeschmiert, zugemalt, übermalt, durchgesaut und ausgeschächtet.

Und das konsequent! Ich hör schon, wie es kracht und knirscht, wenn sie wieder schreiben, dass das alles kalter Kaffee ist und Mapplethorpe zwei Fäuste im Arsch hat (auf dem Foto "Fist Fuck/Double" von 1978, zu sehen in der Ausstellung "Into Me / Out Of Me" in den Berliner Kunst-Werken). Nitsch aber habe nur junge geile Frauen in ausgehöhlten Ochsen. Was wär denn mit beidem? Warum immer so bescheiden in Deutschland oder sonstwo?

Die Wunde bist du

Klar ist Nitsch jetzt Staatskünstler. Na und? Warum denn nicht? Was soll daran falsch sein, wenn der Staat noch wirklich Staat wäre. Wenn die Adern platzen. Wenn das Blut quillt, wenn die Soße rollt, wenn der Tabernakel plötzlich rot wird. Im Tabernakel ist die Hölle los.

Geht in eure Wunden und werft mir nicht vor, ich fände Nitsch geil, weil er provoziert. Er provoziert nur die, die noch immer an Demokratie glauben. Nitsch ist politisch, weil er es ablehnt. "Mich macht das nicht mehr an ...", "Das haben wir doch hinter uns ...", "also ich weiß nicht ...".

Rasierklingen raus, Schmerzbekenntnis!

Ich weiß nur, dass Peter-Klaus Schuster, der Generaldirektor der Staatlichen Museen Berlin, vor der Ausstellungseröffnung kurzfristig nach Afrika musste: Nix wie weg! Ich weiß auch, dass ein Großteil der Freunde der Nationalgalerie gedroht hat, die Freundevereinigung zu verlassen, wenn so was wie mit dem Nitsch noch mal vorkommt.

Ich weiß, dass Kunst feige und dumm ist. Ich weiß auch, dass mich Nitsch nie wirklich interessiert hat, dass ich mich aber sehr wohl fühle in seinen Bildern, bei seiner Frau, seinem Sohn, seinem Husten, Röcheln, Lachen und seiner Projektionsfläche des Lazarus. Der ungläubige Thomas: Hermann Nitsch. In die Wunde. Die Wunde bist du. Ich bin die Wunde. Zeig mir deine Bremsspur.

Museum noch zeitgemäß?

Und plötzlich stockt er und sagt: In der Süddeutschen war neulich ein Bild von der "Orestie", das sah aus wie von mir. Und ich erkläre Nitsch, dass er nichts damit zu tun hat. Dass sich keiner auf ihn bezieht. Dass er das alles getrost vergessen kann.

Theater ist weder Blut noch Ketchup. Theater ist der Versuch, vom realen Blut, von der Provokation des Welttheaters auf gemütliche Art und Weise abzulenken. Theater denkt nicht mehr über die Position des Betrachters nach, so wie auch der Betrachter nicht mehr über seinen Anteil am Bild nachdenkt. Nix da.

Die spielen, und die anderen schreiben. Und wenn es stinkt, dann geht man halt, und wenn man fertig ist, dann macht man sauber, und die Kostümabteilung muss ran und Flecken waschen. Und wenn man gar nicht mehr weiter weiß, dann droht man damit, dass einen ein Kugelschreiber hätte aufschlitzen können. Das Theater im Tabernakel. Hinter dicken Wänden. Ein Tresor. Aber kein Nitsch.

Und wenn mir morgen noch mal ein Kunstarsch sagen will, dass Nitsch nicht im Museum funktioniert und Beuys auch nicht, dann reiß ich ihm seinen Dreitagebart aus dem Gesicht. Beuys, Nitsch, Roth, Thek, Kaprow: das sind keine Karikaturisten, aber sie haben verdammt viel Spaß und Freude am Sauberkeits- und Klarheitswahn unserer Trennkostapostel und Mülltrenner.

Beuys funktioniert nur noch in Darmstadt, hat man mir gesagt. Was soll das ? Wenn Nitsch nicht im Museum funktioniert, sondern nur noch im Guggenheim, dann würde ich mich eher fragen, was denn ein Museum ist. Was ist aus dem denn geworden?

Verdichten, verdichten ... noch kleiner, noch konzentrierter. Vielleicht ist Nitsch zu groß. Und Beuys, zeitlich gesehen, zu weit gefasst. Vielleicht muss man den Betrachtern die Esoterik aus der Birne kloppen. Vielleicht sollte man eher fragen, ob ein Museum noch zeitgemäß ist. Vielleicht passt nicht die Kunst nicht ins Museum, sondern das Museum nicht zur Kunst.

Und deshalb muss man auch den Günter Brus mal holen. Kurz bevor der aus dem Leben scheidet. Rasierklingen raus, Schmerzbekenntnis! Brus in Berlin! Macht voran, bevor ihr eure Nachrufe in die Tasten hackt und die Galeristen Verkaufsshows organisieren.

Und wenn ich noch etwas sagen darf, dann dieses: Nitschs Frau Rita ist der beste Beweis, dass alles aus der Erde kommt, dass die Zeit nur ein Sprung in der Schüssel ist, dass es sich lohnt zu sauen, und dass es sich über das Brennen in den Augen der Aktionisten zu reden lohnt.

Die Biomasse der Bewohner der Erde beträgt nur 0,0075 Prozent der Gesamtmasse. Was regt ihr euch also auf? Geht in eure Wunden! Besucht diese Ausstellung! Es gibt immer bessere, klar. Na und.

Vergesst den Meta- und Esokram! Geht in die Skulpturen, denn ihr seid ein Teil davon. Und wenn ihr glaubt, das ist ein Manifest, dann schickt mir eure Sterbeurkunden.

Nitsch und Beuys und Brus und Thek sind noch lange nicht Geschichte. Und wenn wir dann in hundert Jahren zurückblicken, dann werden wir sehen, dass die Flecken noch immer geblieben sind. Kleine Netzhautbeschädigungen, Ablösungen, heidnische Rituale in aufgeräumten Kinderzimmern.

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