Ulrich Mühes Theaterzeit in der DDR:Ohne Mühe

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Bevor Ulrich Mühe im Westen ein Filmstar wurde, war er der Theaterheld des Ostens, besonders für die Jugend. Er war der sensationellste Schauspieler unter vielen großartigen am Deutschen Theater in Berlin.

Jochen Schmidt

In den Achtzigern stellte man sich einmal im Monat am Sonnabendvormittag an der Kasse des Deutschen Theaters in die Vorverkaufsschlange, die sich über den ganzen Platz wand, und deckte sich mit Karten für den nächsten Monat ein. Sie kosteten nicht viel, die Herausforderung war lediglich, rechtzeitig da zu sein und die gefragteren zu bekommen, wozu man ein paar Schulstunden schwänzen musste. In der Schlange sah man entfernte Bekannte, denen man bei allen interessanten Veranstaltungen offizieller oder illegalerer Art begegnete, meistens im Pulk der vor der Tür auf eine Gelegenheit, doch noch reinzukommen, Wartenden. Gleichgesinnte konnten sich damals in Ostberlin kaum verpassen.

Ulrich Mühe, der am 22. Juli 2007 starb, feierte seinen größten Film-Erfolg mit "Das Leben der Anderen". Seine Karriere begann jedoch lange vorher im Deutschen Theater in Berlin. (Foto: Foto: AP)

Einmal sahen wir, an unseren Platz in der Schlange gefesselt, Ulrich Mühe die Treppe des DT hinabsteigen. Er aß ein Wiener Würstchen und warf den Pappteller in einen Mülleimer. Es war ein kleiner Schock, erlebt zu haben, dass auch große Künstler Würstchen aßen. Wir sahen uns an, aber wir konnten unseren Platz in der Schlange nicht riskieren. Schließlich scherte doch einer aus und ging zum Mülleimer, um sich Ulrich Mühes senfbefleckten Würstchenpappteller als Reliquie zu sichern.

Theater war unsere Leidenschaft. Theater war keine Pflichtveranstaltung für Bildungsbürger, sondern der Ort, an dem in irgendeiner Form die Wahrheit gesagt wurde, sonst wäre man nicht mehr hingegangen. Egal, um welches Stück es sich handelte, der Grund, warum man kam, waren die Verhältnisse im Land, deshalb konnte jede Kleinigkeit zur Anspielung werden. Wenn Ulrich Mühe als Shylocks Diener im "Kaufmann" ein paar Mauersteine übereinanderlegte und laut nachdachte, ob er drüberspringen und seinen Herrn verlassen sollte, dann war natürlich klar, von welcher Mauer die Rede war. Dieser Appetit des Publikums auf Anspielungen war natürlich auch ein Gefängnis für die Künstler.

Aber wegen solcher Momente von sonst kaum anzutreffender Offenheit ging auch ich mehrmals in der Woche ins Theater, zur Not in Inszenierungen, die ich schon kannte. Ich wohnte allerdings am Rand von Berlin, in einem Plattenbaugebiet, deshalb lohnte es sich nicht, mit der S-Bahn nach der Schule nach Hause zu fahren. Ich musste mich mit meiner schweren Schultasche in der Stadt herumtreiben und die Zeit überbrücken, wobei es zwischen Alexanderplatz und Reinhardstraße damals nur zwei oder drei Imbissbuden gab, ein Kaufhaus, an dem die Rolltreppen noch das Interessanteste waren und viel Leere.

Wenn es endlich Abend war, saß ich irgendwo im Rang des DT und prägte mir die freien Plätze im Parkett ein. In der Pause sicherte ich mir einen Platz möglichst weit vorn, und wenn alles gut gegangen und ich nicht vertrieben worden war, freute ich mich über mein Jagdglück. Oft schlief ich allerdings ein, weil der Tag lang war und die Luft stickig. Schlaf, in dieser Zeit hätte er käuflich zu erwerben sein müssen, nie war das Unverhältnis von zur Verfügung stehender Zeit und Dingen, die man machen wollte, größer.

Man studierte den Besetzungszettel und merkte sich die Namen der Schauspieler, auch der aus den Nebenrollen. Man sah die Schauspieler in ihren Rollen, aber im Kopf dabei auch in den anderen, in denen man sie schon erlebt hatte, so bemerkte man ihren eigenen Stil, eine Art, manieriert zu näseln oder ungewöhnliche Pausen zu setzen, die sie in jeder Rolle anbrachten. Man wollte Regisseur werden, Theaterkritiker oder Schauspieler, vielleicht auch Beleuchter oder Kartenabreißer, jedenfalls dazugehören. Aber in diese faszinierende Welt führte für einen unscheinbaren, blassen Jungen, den niemand wahrnahm und der nichts zu sagen hatte, kein Weg. Und für den Umweg über Besäufnisse in der Theaterkantine war ich noch zu brav.

Einfach großartig: Jedes Stück erweiterte Mühe um eine Dimension

Dabei sah ich mich natürlich als Hamlet, wie ich allein auf der dunklen Bühne stand, mit ersterbender Stimme den entscheidenden Monolog in den Saal hauchte und anschließend von den Zuschauern auf Händen durch die Straßen getragen wurde.

Wir entwickelten bald einen Blick dafür, welche Schauspieler sich zwar bemühten, aber nicht diese gewisse Klasse besaßen, die man vom DT-Ensemble gewöhnt war, zu dem nur die besten stießen. Wie heute bei Hollywood-Filmen freuten wir uns auf das spektakuläre Casting einer Neuinszenierung, und wir sahen uns Stücke wegen bestimmter Schauspieler an.

Wegen Ulrich Mühe sogar alles, denn er war der sensationellste Schauspieler unter vielen großartigen, weil er jedes Stück um eine Dimension bereicherte.

Das schien nicht von der Qualität des Regisseurs oder des Stücks abzuhängen, er hatte immer seinen unvorhersehbaren Moment, den er sich irgendwie selbst erarbeitet zu haben schien. Überraschende Übersprungshandlungen oder durchscheinender Wahnsinn, in der Art, wie er den Text beim Sprechen zerlegte. Ein Schauspieler, bei dem jede Nuance durchdacht wirkte.

Wenn er als Zygmunt in "Das Leben ist Traum" den Kopf unter den Rock der Nichte des Königs steckte und mit den Füßen ruderte. Oder am Beginn von "Philotas", wo er seinen Einsatz in mehreren Anläufen herauswürgte, als sei seine Stimme gelähmt. An anderer Stelle baute er Aussetzer ein, als würde eine Platte springen. In "Gespenster" versuchte er plötzlich die Wand hinaufzusteigen. In "Bunbury" wurde ihm der Stuhl unter dem Gesäß weggezogen, und er blieb, der Physik trotzend, mit übergeschlagenen Beinen sitzen, als bemerke er nichts. In "Die Geisel" spielte er einen Transvestiten und spritzte sich am Bühnenrand mitten im Trubel auf den Boden gekauert Heroin, wo hatte er das so haarsträubend realistisch studiert?

1989 las ich auf dem Heimweg von der Schule in der BZ am Abend (heute Berliner Kurier) die Überschrift über einer kurzen Meldung: "Hamlet mit Mühe am DT". Heiner Müller würde an meinem Theater mit Ulrich Mühe in der Hauptrolle "Hamlet" inszenieren! Ein unvorstellbares Gipfeltreffen, die Nationalmannschaft des DDR-Theaters im größten aller Stücke, und es schien sofort, als hätte es nicht anders sein können, als hätte darin der Sinn von 40 Jahren DDR bestanden, denn natürlich hielt man damals die Wirklichkeit für die kleine, häßliche Schwester der Kunst.

Kurz darauf kam Müller zu uns an die Schule, eine Diskussionsveranstaltung, in deren Verlauf er, wohl angesichts unserer Beschränktheit, zusehends verstummte und seinen Dramaturgen für sich reden ließ. Trotzdem ist mir jeder seiner Sätze in Erinnerung, zum Beispiel, dass die Aufgabe eines Regisseurs bei einer Hamlet-Inszenierung lediglich darin bestehe, festzulegen, wer der Geist und wer Fortinbras sei, bei ihm Stalin und die Deutsche Bank. Anschließend stand man noch kurz vor dem (inzwischen abgerissenen) Gebäude unserer "Spezialschule mathematisch-naturwissenschaftlicher Richtung Heinrich-Hertz" an der Frankfurter Allee.

Er war nicht viel größer als ich und hatte Schuppen auf dem Jackett. Ich fragte ihn, wie es um den "Hamlet" stehe. "Schauspieler sind sensible Wesen", sagte er. Später nannte er die Arbeit seinen "Scheiß-Hamlet". So sprach ein Künstler über sein Werk! Der Scheiß-Hamlet sollte dann die DDR überleben. Als er Premiere hatte, war ich bei der Armee, ein Ort, an dem die Wende sich darin manifestierte, dass wir plötzlich Schnurrbart tragen durften und nicht mehr "Genosse", sondern "Herr" genannt wurden.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, was dem Theater ohne Ulrich Mühe fehlt.

Ich hätte nicht mehr dorthin gehen müssen, man hätte sich im November '89 schon irgendwie entziehen oder spätestens nach dem Mauerfall verschwinden können. Aber es war klar, dass ich so etwas erlebt haben musste, wenn ich mehr als ein blasser Junge sein wollte, der nichts zu sagen hatte. Der Sprung macht die Erfahrung, nicht der Schritt, hatte ich von Müller gelernt. Im März las ich nachts auf dem Wachturm eines Munitionsdepots bei Magdeburg in der taz eine ganzseitige Kritik zur Hamlet-Premiere am DT. Der Westen war begeistert, natürlich, wie konnte es anders sein, aber ich wurde ungeduldig, ich wollte Mühe nicht verpassen, in einer Inszenierung, auf die ich schon fast ein Jahr hinfieberte. Ich stellte meinen Antrag auf Entlassung in den Zivildienst.

Vorhang auf! Ulrich Mühe war jahrelang fester Bestandteil des Ensembles des Deutschen Theaters. Nach der Wende verließ er es als einer der Ersten. (Foto: Foto: dpa)

Plötzlich tauchten in der Pause Baguette-Verkäufer vor dem Theater auf

Auf der Urologie des katholischen Krankenhauses, in dem ich landete, rasierte ich zahlreichen ehemaligen Wehrmachtssoldaten vor ihrer Blasen-OP die Genitalien und leerte abends ein Regal mit Uringläsern, dem Tagesertrag der Station, eine Symphonie aus Gelb- und Rottönen. Den Geruch hatte ich noch in der Nase, als ich endlich im schon vor der Vorstellung dunklen Saal des DT saß, wo die Zuschauer im seltsam gelben Neonlicht aussahen wie Leichen. Von der Bühne, einem riesigen Eiswürfel, tropfte Tauwasser in den Graben. Über unseren Köpfen hing eine Stahlkonstruktion, eine Axt aus zusammengeschweißtem Schrott. Die gelben Lichter verloschen, die Axt begann sich langsam und rasselnd zu drehen, und über einen darin versteckten Lautsprecher sprach Mühe mit blechern klingender Stimme einen düsteren Monolog über das Ende von Rom. Neu war, dass in der Pause plötzlich Baguette-Verkäufer vor dem Theater auftauchten.

Mühe trug als Hamlet einen zu großen Soldatenmantel, genau so einen, wie wir sie in den Schränken unserer Großväter aufgestöbert hatten, um darin schwermütig durch Berlin zu stapfen, klobige Arbeitsschuhe an den Füßen. Neun Stunden dauerte das Stück, während sich der Zuschauerraum erst in ein Grab verwandelte, aus dem wir durch einen Spalt in den Himmel sahen und dann die Bühne in einen Atombunker voll rotem Rattengift. Am Ende erschien Fortinbras im Kostüm der Deutschen Bank und zog die Köpfe von Rosenkranz und Güldenstern aus zwei Hutschachteln. Alle waren tot, die Zeit der intellektuellen Clowns war vorbei, die Geschäfte konnten beginnen.

Ich machte mir kaum bewusst, wie aktuell so eine Deutung war, denn was draußen in der Welt passierte, war ohnehin unter meinem Niveau, es zählte nur die nächste Vorstellung. Wenn, wie Müller meinte, für Ernst Jüngers Generation die erste Erfahrung nicht die Frauen waren, sondern der Krieg, dann war es für mich das Theater.

Das Ensemble des DT ist natürlich längst zerfallen, so eine Oase kann es nur in einer Wüste geben. Immer wieder staune ich, wenn ich im Fernsehen hier und da meine alten Schauspieler sehe, viele schlagen sich in Serien durch.

Georg Seidel, Heiner Müller, Ruth Berghaus, Jurek Becker, Heiner Carow, Tamara Danz, Thomas Brasch, Jenny Gröllmann, Ulrich Mühe, zu viele DDR-Künstler sind nach der Wende vor ihrer Zeit gestorben, die meisten an Krebs. Man wünschte sich, dass Ulrich Mühe im Westen Karriere machte, weil man stolz auf ihn sein wollte wie auf unsere Sportler. Und er hatte ja nicht plötzlich im FDJ-Hemd vor Honecker gestanden, wie Katharina Witt. Aber ob es für einen Künstler wie ihn unbedenklicher war, mit einem Oscar in der Hand vor den Filmbossen von Hollywood zu stehen? Er hatte das DT nach der Wende als einer der Ersten verlassen, seitdem hatte ich ihn nicht mehr auf dem Theater gesehen, man dachte ja, es sei noch viel Zeit.

Das ist das Traurige, aber auch das Besondere am Theater, dass es sterblich ist. Ohne Ulrich Mühe habe ich wenig Theater gesehen, auf das man nicht hätte verzichten können. Es fehlte etwas, es war schwer zu sagen, was. Erst mit der Zeit verstand ich, dass es nicht einmal so sehr das Geschehen auf der Bühne war, das mich seltsam kalt ließ, sondern dass ich mit dem Publikum, das sich komplett gewandelt hatte, nichts mehr gemein hatte. Ich saß jetzt zwischen Zahnarztgattinnen aus Zehlendorf. Ein Nutznießer des ungeliebten Privilegs, zur westlichen Welt zu gehören. Aber mir blieb ja noch ein senfbefleckter Pappteller.

© SZ v. 4./5.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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