Über den Schatten:Duell in der Sonne

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Das ganze Jahr lang führt der Schatten ein Schattendasein - nur jetzt, in der brütendesten Hitze, spendet er uns die größte Freude. Ein Lob des Schattens.

Christopher Schmidt

In unseren kontrastarmen Gegenden liegt eine Art Trost darin, wenn die Sonne sengend vom Himmel herunterbrennt und die Welt in Licht und Schatten teilt. Schön und kurios zugleich ist es, zu sehen, dass sie die Laufwege auseinanderzieht wie eine Girlande.

(Foto: Foto: Robert Haas)

Unversehens lenkt nicht mehr nur der Einkaufszettel den Schritt, aus lauter einzelnen, wirr durcheinander wimmelnden menschlichen Vektoren werden schmale Ameisenstraßen im Schlagschatten der Häuser, und die gerade Linie zwischen A und B verbiegt sich zu einem Zickzack, wenn wir gegen die Sonne kreuzen.

Erst jetzt, in diesen heißen Sommertagen, wissen wir den Schatten zu schätzen, von dem es so schön heißt, dass er "gespendet" wird. Die Spende ist ja das Gegenteil eines Opfers. Der Sonne werden wir zum Fraß vorgeworfen, Bäume und Gebäude aber sind unsere Wohltäter und Mäzene, denn sie geben ja ihren Schatten freiwillig her. Man sollte ihnen eigentlich eine Spendenquittung ausstellen.

Zumindest linguistisch aber haben wir uns erkenntlich gezeigt. Keine andere Sprache als die deutsche verfügt über so viele Abwandlungen und Verbindungen des Wortes Schatten, bis in die Schattenwirtschaft und das Schattenkabinett hinein. Fast vierzig Seiten benötigt das Grimmsche Wörterbuch, um dem Schatten und all seinen Bedeutungsfacetten gerecht zu werden. Es finden sich dort so poetische Wortschöpfungen der Dichter wie die "Schattenzunge", der "Schattenfürst" und das "Schattenvolk". Und was ist eigentlich der "Nachtschatten", in dem zum Beispiel die Schattenmorelle gedeiht? Genau dies: der Schatten, der die Nacht selber ist.

Tag für Tag huscht dieser Schatten über die Erde, taucht ihre eine Hälfte in Nacht und schiebt den Tag vor sich her. Nirgendwo ist das dramatischer zu erleben als im Hochgebirge, wo der Einbruch der Nacht das sichere Verderben für jeden Wanderer bedeutet, der nicht rechtzeitig die rettende Hütte erreicht. Wie im Zeitraffer werden die Schatten länger, und aus den Tälern steigt die Dunkelheit auf wie eine schwarze Flut.

Die totale Fläche

Hier lässt sich zugleich das Wesen des Schattens am besten begreifen. Die schroffe Trigonometrie der Berge, ihre ekstatische Plastizität versinkt im Schatten, als würden die Gipfel dahinschmelzen wie Zinnfiguren auf einem erhitzten Löffel: Aus dem totalen Raum wird die totale Fläche.

Trotz seiner Gewalt verbindet man mit dem Schatten von jeher das Schwächliche und Kraftlose, Matte und Flüchtige, eben das Schattenhafte. Und auch das Trügerische. Der schlechte Leumund des Schattens beginnt bei Platons Höhlengleichnis, in dem die Menschen von Schattenbildern genarrt werden. Und er findet noch seinen Niederschlag bei Novalis, der darauf aufmerksam machte, allein der Sonnenstand könne aus einem Zwerg einen Riesen machen. Es waren denn auch die antiplatonischen, gegen das kristalline Licht-Ideal gerichteten Strömungen, die sich mit dem Schatten verbündeten.

In Chamissos "Peter Schlemihls wundersame Geschichte" verkauft ein leichtfertiger Mensch dem Teufel seinen Schatten und also seine Seele. "Wahr spricht, wer Schatten spricht", heißt es in einem Gedicht von Paul Celan. Der norwegische Schriftsteller Jon Fosse hat diese Zeile seinem Theaterstück "Schatten" (Skuggar) als Motto vorangestellt. Im Stück wird eine Familie im Schattenreich des Todes wieder vereint. Alles, was diese Figuren irgendwann im Laufe ihres Lebens empfanden und dachten, ist hier gleichzeitig wahr, so dass sie sich im selben Moment zu dem einen Geliebten bekennen können wie zu dem anderen, ohne sich dabei selbst zu widersprechen. Denn unter den Toten ist die Zeit aufgehoben.

Indem Fosse die Zeit aushebelt, erkennt er in den Wechselfällen des Lebens das immergleiche Muster; der Schatten wird zum Inbegriff eines Sprechens, das, wie Celan sagt, das Nein nicht vom Ja scheidet, Mittag und Mitternacht gleichermaßen umfasst.

Die Seele

"Lob des Schattens" heißt denn auch ein kleines Buch des japanischen Schriftstellers Tanizaki Jun'ichiro. In Abgrenzung vom westlichen Schönheitsideal versucht er sich an einer Ästhetik, deren Schlüsselbegriff der Schatten ist. Während die abendländische Kultur eine der Reinigung und Läuterung sei, die Klarheit und Durchsichtigkeit anstrebe, konserviere der Japaner die Gebrauchsspuren der Dinge und ästhetisiere sie.

Das Buch plädiert für die Abstufung im Gegensatz zur Monochromie und ihrer zerstörerischen Eindeutigkeit. Für Orientalen, so Tanizaki, liege Schönheit nicht in den Objekten selbst, sondern "im Schattenspiel, das sich zwischen ihnen entfaltet". Und er vermerkt, die Diskriminierung habe sich stets ebenso heftig gegen Schwarze wie gegen Mischlinge gerichtet. Während der westliche Mensch unfähig sei, Ambivalenzen zu ertragen, seien diese das Lebenselixier des Orientalen. Celan spricht vom "Schattenentblößten" als der unerlösten Seele.

Das ganze Jahr über führt der Schatten ein Schattendasein. Im Sommer tritt er ins Licht, als sichtbare Seele.

© SZ vom 31.7.2008/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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