TV-Pfarrer Jürgen Fliege:Nichts Neues vom Witwenschüttler

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Der Mann ist Deutschlands dienstältester Talkmaster: Seit zehn Jahren bringt er seine Gäste zur Fernsehfeldbeichte - immer mit denselben Tricks.

TITUS ARNU

Der Mann macht mittlerweile fast dem Heiligen Geist Konkurrenz. Er kommt geballt über uns und spricht in tausend Zungen. Fliege grüßt werktäglich aus dem Fernsehen. Fliege ruft zu Lichterketten in Kreuzform auf und geißelt den Irak-Krieg als "satanisches Abenteuer".

Schon zu Studienzeiten in Tübingen wurde er mit einer Sechs für seine Examenspredigt bestraft, später warfen ihn die Vorgesetzten aus seiner Gemeinde und erteilten ihm Berufsverbot. (Foto: Foto: dpa)

Fliege hat eine eigene Zeitschrift, die Fliege heißt. Fliege betreibt eine Website. Fliege schreibt Bücher. Fliege liest die Weihnachtsgeschichte auf CD.

Die Gemeinde des populärsten deutschen Pfarrers hat den Kanal noch lange nicht voll. Ende Februar wird die Talkshow Fliege zehn Jahre alt, ein Ende ist nicht abzusehen. Der Mann hat es zum dienstältesten deutschen TV-Talker gebracht und sich in 1500 Sendungen mit 9000 Gästen einen Ruf als Psycho-Pfarrer, Frauenversteher, Beichtvater der Nation erarbeitet. "Vor zehn Jahren bin ich mit längeren Haaren und jugendlichem Ehrgeiz angetreten", sagt Fliege, "mein Ziel war es damals, besser zu sein als Hans Meiser." Nun hat er Meiser, Bärbel Schäfer und Ilona Christen überlebt und gilt bei der ARD als Gesamtkunstwerk, das nicht in Frage steht, solange die Zuschauerzahlen stimmen. Der Vertrag, über den im Frühjahr geredet werden soll, läuft noch bis zum Jahresende.

Woche für Woche beplaudert der öffentlich-rechtliche Gottesmann Themen wie Weihwasser, Waisenkinder und Wunderheiler. Zwei Drittel der Zuschauer sind Frauen, die meisten Fans sind älter als 50 Jahre. Zu diesem Publikum hat Fliege, selbst 56, einen guten Draht. Er findet aber auch Zugang zu einer jungen Mutter, einem Ex-Junkie oder einem Ex-Bundespräsidenten. Er hatte den Dalai Lama zu Gast, einen Transsexuellen und Monty Roberts, den Pferdeflüsterer. Ist Fliege ein Menschenflüsterer, der in die Seele von Studiogästen kriechen kann wie Roberts in die Psyche von Pferden?

Der Pfarrer mit Fernsehauftrag gilt als gewiefter Annäherer im Fernsehen - kaum einer kann im Korsett einer Stunden-Talkshow so geschickt Nähe inszenieren. Fliege arbeitet mit rhetorischen Tricks und Körpersprache; all das Umarmen, Tätscheln und Händedrücken haben ihm Spitznamen wie "Witwenschüttler" eingebracht. Sein berühmter Kniefall vor dem Studiogast mag lächerlich aussehen, aber er wirkt.

Die Übung, neben dem Segen zum Sendeschluss ("Passen Sie gut auf sich auf") Flieges wichtigstes Markenzeichen, entstand in der allerersten Sendung. Als vor zehn Jahren in Augsburg die Pilotsendung für eine ARD-Nachmittagstalkshow aufgezeichnet wurde, war Fliege einer von mehreren Kandidaten für die Moderation. Das Thema, ein Gespräch unter Priestern, passte dem aus Berlin eingeflogenen Pfarrer nicht. Er befragte lieber eine ältere Dame aus dem Publikum über ihre Erfahrungen im Krieg. Die Frau setzte sich auf einen Stuhl und begann stockend zu erzählen. Fliege kniete sich auf den Boden - plötzlich lief das Gespräch. Den Trick kannte er aus der Gemeindearbeit: "Bei Trauergottesdiensten habe ich mich oft auf die Stufen vor dem Altar gesetzt, weil Trauernde nicht nach oben schauen, sondern nach unten."

Jürgen Fliege hat weder Psychologie studiert noch Rhetorik-Kurse belegt. Kommunikation ist seine Begabung. Beim Interview in seinem Büro in Grünwald redet er leise und für seine Verhältnisse recht langsam, zum Mitschreiben. Er verschränkt die Arme hinterm Kopf, wippt mit dem Stuhl. Bewegung erzeugt schließlich Kommunikation: "Vielleicht habe ich so gut reden gelernt, weil ich als Kind nicht so gut lesen und schreiben konnte." Er galt in der Schule als Legastheniker, blieb öfter sitzen, fühlte sich als Witzfigur: "Ein Junge im Pepita-Anzug, der klein war und auch noch 'Fliege' hieß - mit dem wollten die Mädchen natürlich nichts zu tun haben." Auch sonst war es weniger lustig: Fliege wurde vom Vater im Keller mit dem Gartenschlauch vertrimmt. Die schwierige Kindheit, angefangen bei der dramatischen Geburt auf dem Rücksitz eines Opel P4, scheint eine wichtige Triebfeder zu sein.

Selbst auf Flieges Weihnachts-CD ist dies durchzuhören. "Was ist das Geheimnis dieser Geschichte?", raunt Fliege, nachdem er die altbekannte Story vorgetragen hat. "Weihnachten scheint der Ort zu sein, an dem man zurück will in die Kindheit. Klein sein. Schutzlos sein." Dieses Kleinwerden und Ausgeliefertsein ist wichtig in Flieges Sendung. "Wir sind so eine Art elektronischer Selbsthilfegruppe", sagt der Moderator. Für den Schriftsteller Peter Schneider ist Flieges Talkshow "jener unsichtbare Ort in uns allen, wo Erich Fromm und der kleine Prinz sich Guten Nachmittag sagen".

Die Runde wirkt wie eine abenteuerliche Mischung aus Gruppentherapie, Märchenstunde und Gottesdienst. Die Bühne ist ein öffentlicher Beichtstuhl, auf dem sich Menschen ausheulen, die riesige Gemeinde leidet gerührt mit. Irgendwie schafft Fliege es, dass die Geständnisse nicht so indiskret und banal klingen wie bei den Talkshows der Privatsender. Vielleicht, weil er tatsächlich Pfarrer ist. 15 Jahre lang betreute der Protestant Pfarreien in Düsseldorf, Essen und Aldenhoven, einem kleinen Bergarbeiter-Ort. "Religion muss nicht nur nach Weihrauch riechen, sondern nach dem Leben. Ich will die Religion im Fußschweiß der Leute riechen", sagt er. Oder: "Manchmal braucht man auch religiöses Junk-Food statt des alten Schwarzbrots."

Auch wegen solcher Sprüche ist Fliege beim konservativen Klerus nicht sehr beliebt. Schon zu Studienzeiten in Tübingen wurde er mit einer Sechs für seine Examenspredigt bestraft, später warfen ihn die Vorgesetzten aus seiner Gemeinde und erteilten ihm Berufsverbot. Als er in einem Interview von "diesem alten Gangster da oben" sprach und seinen allerobersten Chef, den lieben Gott meinte, waren die irdischen Chefs dermaßen sauer, dass für kurze Zeit die Talkshow in Frage stand. Aber Fliege hat einen guten Schutzpatron - die Einschaltquote.

Hans Meiser, der die Psycho-Talkshows nach US-Vorbild in Deutschland einführte, begann mit 40 Prozent Marktanteil; RTL stellte die Sendung ein, als sie unter zehn Prozent geriet. Fliege hatte zu den besten Zeiten 15 Prozent und liegt derzeit zwischen elf und zwölf Prozent. Der Gesprächsbedarf der Leute ist nach wie vor hoch. Täglich erreichen die Fliege-Redaktion Dutzende von Briefen, in denen Menschen ihre Sorgen vortragen. Meistens kann die Redaktion nur weitervermitteln. Manche Menschen drohen mit Selbstmord, wenn Fliege nicht helfe. "Wir schüren große Hoffnungen," sagt Fliege, der sich selbst manchmal vorkommt wie der Leiter einer Bundesseelsorgestelle. Dass der Strom der Ratsuchenden bald abreißen könnte, glaubt Fliege nicht. "In Krisenzeiten zählen Menschen die Blütenblätter an Gänseblümchen, sie brauchen Rituale."

Eines davon ist offenbar für manche, um 16 Uhr werktäglich das Erste einzuschalten.

© SZ v. 09.01.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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