Trennung:Gute Scheidung, schlechte Scheidung

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Wenn man sich nur "gut" und freundschaftlich trennt, nehmen die Kinder nur geringen Schaden, glauben viele Scheidungswillige. Aber auch ohne Schlammschlacht tragen vor allem die Kinder das Leid.

Christine Brinck

"Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche ist auf ihre Art unglücklich". Nabokov hat diesen berühmten ersten Satz aus Tolstois "Anna Karenina" in "Ada" einfach umgedreht. Beide Versionen haben ihre Verteidiger - je nach Blickwinkel und Erfahrung der Erwachsenen.

Trauriges Kind (Foto: Foto: AP)

Für die meisten Kinder aus unglücklichen Familien und die Scheidungsforscher hat wohl eher Tolstoi Recht. Anna Kareninas traurigem Ende zum Trotz sind es Kinder wie ihr kleiner Sohn Serjoscha, welche die Hauptleidtragenden unglücklicher und geschiedener Ehen sind.

Sie sind der Fürsorge ihrer Eltern überantwortet, doch diese lassen es bei Trennung und Scheidung an eben dieser mangeln. Mittlerweile werden bei uns mehr als 200.000 Ehen pro Jahr geschieden.

Besser Streit als Scheidung

Erst hielt man Scheidungen für die betroffenen Kinder für ungefähr so anstrengend wie einen lästigen Schnupfen. Dann entdeckte man, dass der Nachwuchs vielleicht doch eher eine schwere Grippe durchmacht, langsam setzt sich die Einsicht durch, dass viele Kinder echten Schaden nehmen, wenn die Eltern sich scheiden.

Schaden, den zumindest die klugen Scheidungswilligen glauben abfedern zu können, wenn sie eine "gute" und freundschaftliche Scheidung hinkriegen. Dass auch diese Annahme auf tönernen Füssen stehen kann, lehrt eine neue Untersuchung aus USA.

Das Buch "Between Two Worlds: The Inner Lives of Children of Divorce" der Sozialforscherin Elizabeth Marquardt enthält nicht gerade die Botschaft, die modernen Eheabbrechern in ihr Lebenskonzept passt. Viele machen es sich seit Jahren gemütlich mit der Floskel: nichts ist schlechter für Kinder als ehelicher Streit.

Falsch, kontert Marquardt, die selber ein Scheidungskind (aus einer "guten" Trennung) ist, Kindern geht es in nicht furchtbar glücklichen, also normal streitgeladenen Ehen meist besser als Scheidungskindern. So gaben 52 Prozent der Befragten, die aus "guten" Scheidungen kamen, an, dass ihr Familienleben nach der Scheidung "anstrengend" (stressful) war. Das fanden nur 35 Prozent der Befragten aus unglücklichen und gerade mal 6 Prozent aus glücklichen Familien.

Die These des Buches lautet, dass die Trennung der Eltern das innere Leben von Kindern spaltet, sie in jungen Jahren zwingt, Experten in Fürsorge, Verhandlung und Strategie zu werden: Aufgaben, die sie überfordern und sie noch als Erwachsene mit einem Gefühl der Unsicherheit und Einsamkeit erfüllen können.

"Happy talk"

Das Buch basiert auf Daten, die Marquard mit dem Familienforscher Norval Glenn von der University of Texas in Austin in der ersten "Nationalen Untersuchung über das moralische und spirituelle Befinden von Scheidungskindern" in Telefoninterviews mit 1500 jungen Erwachsenen zwischen 18 und 35 Jahren gesammelt hat; die Befragten stammen je zur Hälfte aus geschiedenen und aus intakten Ehen. Die Autorin verwebt ihr eigenes Schicksal - ihre Eltern ließen sich scheiden, als sie zwei Jahre alt war - mit den Geschichten von 71 Scheidungskindern, die sie in Intensivinterviews befragte, und stützt ihren Bericht mit den Daten aus der nationalen Befragung.

Die Geschichten der jungen Erwachsenen wie der Autorin selber zeigen wieder und wieder, dass selbst bei "guten" Scheidungen die meisten Kinder das Gefühl der Zerrissenheit nie loswerden. Herzergreifend sind die Geschichten des ständigem Abschiednehmen von dem einen wie dem anderen Elternteil. Stets setzt sich die Erkenntnis durch, wie sehr die Scheidung das Leben der Kinder bestimmt, ja beherrscht. Marquard nennt das Reden von "guten Scheidungen" "happy talk". Sie warnt sogar, dass dieses positive Zutexten den Scheidungskindern ihre wahren Gefühle zuschüttet.

Die Vorstellung, eine "gute" Scheidung sei gut für die Kinder, ist populär, hat indes mit der Realität der Kinder wenig zu tun. Würden sonst die Hälfte der Kinder aus "guten Scheidungen" sich selbst als kleine Kinder wie Erwachsene gefühlt haben, die Regeln in den jeweiligen Haushalten als sehr unterschiedlich wahrgenommen und zu mehr als einem Drittel zwei unterschiedliche "Wahrheiten" bei den Eltern gefunden haben? Die "gute Scheidung" mag gut für die Erwachsenen sein, weil sie ihnen erlaubt, neue Lebensentwürfe ohne große Friktionen zu realisieren, aber sie als gut für Kinder zu beschreiben, ist irreführend.

Diese Irreführung ist Resultat der Definitionshoheit der Erwachsenen. Was für diese gut ist, soll auch für die Kinder gut sein. Gewiss, eine freundliche Scheidung ist eindeutig besser als eine kriegerische Trennung, doch selbst die nette Version liegt den Kleinen oft schwer auf der Seele. "Solange Eltern verheiratet sind", erklärt Elizabeth Marquardt, "ist es auch ihre Aufgabe, mit dem Ehekonflikt umzugehen. Sobald sie geschieden sind, ist es die Aufgabe der Kinder, die zwei (neuen) Welten zu verstehen."

Mehr Geheimnisse und Lügen

So fand sie heraus, dass zwar nur 20 Prozent der Befragten angaben, dass ihre Eltern viel Krach vor der Scheidung hatten, aber zwei Drittel feststellten, dass die Eltern nach der Scheidung wie "entgegengesetzte Pole" agierten. Das Leben von Scheidungskindern scheint durchweg härter - auf die Frage: "Wenn Sie als Kind Trost brauchten, was haben Sie getan?", antworteten 69 Prozent der Befragten aus intakten Familien, dass sie zu beiden Eltern gingen, aber nur 33 Prozent der Scheidungskinder suchten die Nähe der Eltern.

Auch wenn die Scheidungskinder häufiger bei den Müttern leben, wird das Verhältnis zu ihnen ebenso beschädigt wie das zu den Vätern. Fast dreimal so viele Scheidungskinder (38 Prozent) erklären:"Es gibt Dinge, die meine Mutter getan hat, die ich ihr kaum je verzeihen kann." Das sagen nur 13 Prozent aus intakten Familien. 51 Prozent der Scheidungskinder sagen dasselbe über ihre Väter verglichen mit 17 Prozent aus intakten Familien.

Scheidungskinder fühlten sich in ihrer Kindheit emotional weniger sicher (71 Prozent) als die anderen (94 Prozent), sie fühlten sich auch weniger beschützt von ihren Eltern (63 vs. 81 Prozent), hatten stattdessen in größerer Zahl als andere Kinder das Gefühl, ihre Mütter beschützen zu müssen.

Das Verstörende an den Ergebnissen der Studie ist, dass selbst dann, wenn sich geschiedene Eltern vernünftig und den Kindern gegenüber liebevoll verhalten, diese trotzdem mit der monumentalen Aufgabe konfrontiert sind, in sehr jungen Jahren die unterschiedlichen Wertvorstellungen und Lebensgestaltungen von zwei Eltern allein verstehen zu müssen. Weil sie sich je nach Aufenthalt anders verhalten müssen, gibt es auch in Scheidungsfamilien viel mehr Geheimnisse und Lügen als in intakten Familien.

Die Option muss trotzdem bleiben

Die Ergebnisse sind erfahrungsgemäß auf die deutsche Scheidungsszene übertragbar. Auch hier gilt, dass etwa zwei Drittel aller Ehen, die in Scheidungen enden, niedrig konfliktreich waren. Marquard und Glenn wollen mit ihrer Studie nicht etwa auf die Abschaffung der Scheidung hin arbeiten. Eine bestimmte Anzahl insbesondere der hoch konfliktreichen Ehen wird stets in Scheidung enden. Für solche und alle Ehen, die von Gewalttätigkeit, Alkoholismus oder gar Inzest gezeichnet sind, ist Scheidung eine lebensnotwendige Option. Daran lässt auch Autorin Marquard keinen Zweifel.

Ihr geht es um die Hinwendung zum Kind und die Anerkennung des Elends, in das viele durch die Trennung der Eltern gestürzt werden. Vor allem geht es Elizabeth Marquard darum, von den wohlfeilen Annahmen, wie sich ein Kind zu fühlen hat, wegzukommen. "Zu viele Menschen", schreibt sie, "dachten, weil meine Eltern mich liebten und nicht stritten oder weil ihre Scheidung stattgefunden hatte, bevor ich mich überhaupt an sie erinnern konnte oder weil es mir gelungen war, eine einigermaßen funktionierende Persönlichkeit zu werden, dass die Scheidung gar nicht so schlimm gewesen sein konnte".

Mit der Realität der Scheidungskinder haben diese Annahmen offenbar wenig zu tun. Ein Kind ist nicht nur dann ein Scheidungsopfer, wenn es zum Psychofall oder Schulversager wird. Die vielen superselbständigen, oft einsamen, viel zu früh erwachsenen Mütterkümmerer sind zerrissene Wesen. Dass sie nicht immer daran zerbrechen, kann kaum bedeuten, dass "gute" Scheidungen eine feine Sache wären.

© SZ vom 28.1.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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