Tollwood-Winterfestival:Alles im Fluss

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Der Cirque Éloize verbindet in "Cirkopolis" das Theater und den Zirkus mit der Ästhetik eines Filmklassikers

Von Sabine Leucht

Grau sind die beiden Männer, die durch das Grand Chapiteau huschen. Grau, mit Hut - und schwer auf Zack. Sie trinken Wein an den Tischen der Premierenbesucher und komplettieren kleine Steckbrief-Zettel, bis darauf das Gesicht dessen zu sehen ist, der gerade neben einem sitzt. Ein Hauch von Denunziation liegt in der Luft (und je eine leichte Brise Charlie Chaplin, Franz Kafka und Michael Ende), noch bevor auf der Bühne "Cirkopolis" startet.

Der Cirque Éloize aus Montreal, der zwischen 2006 und 2010 mit Daniele Finzi Pascas "Sky Trilogie" das Deutsche Theater beglückte, ist in seiner natürlichen Heimat angekommen. Akrobatik, Poesie, Nouveau Cirque: Das ist doch eigentlich alles ideal für das Tollwood-Festival, wo aber nun - hoppla! - kalte Betonburgen in den Bühnenhimmel ragen, die auf einer Unterwelt aus riesigen Zahnrädern ruhen. Denn "Cirkopolis" leiht sich Namen und Ästhetik von Fritz Langs expressionistischem Stummfilm "Metropolis" und den düsteren Zukunftsvisionen von Terry Gilliams "Brazil" und ist in vielerlei Weise anders als fast alles, was man je gesehen hat im Zirkus oder Theater.

Ein wenig anders sogar als der Cirque Éloize selbst. Der Abend überwältigt einen nicht mit fantastischen Einzelleistungen am Vertikalseil oder der Pole, sondern lässt diese sich fast natürlich ergeben. Graue, emsige Ameisen-Menschen gehen in einer mittels Videoprojektionen von Robert Masicotte erzeugten Fiktion von Stadt umher, die sich ungeheuer weiten kann oder einen mit hinab zieht in ihren geheimnisvoll mahlenden Schlund. Sie huschen, stampfen und schieben sich über die Bühne und bringen Berge von Akten zu grauen Schreibtischen. Und dieses an sich schon meisterlich variierte und choreografierte Gehen fließt hinüber in den Tanz, in dem sich wie von ungefähr einer auf die Hände des anderen stellt oder mit einem Bürohocker unter dem Tisch hindurchsaust. Andere fliegen mit einer Selbstverständlichkeit darüber hinweg, mit der unsereins Kaffee kocht, und streifen einem Vorbeitanzenden das graue Sakko ab, unter dem eine Frau im roten Kleid steckt. Und als für diese ein großer Reifen hereinrollt, geht der distanzierte Flirt mit ihm in eine sportgymnastische Annäherung und diese erst in ein Cyr-Spektakel über, das man in dieser Komplexität und Intensität selten zu sehen bekommt. Die Könnerschaft und nachgerade Zärtlichkeit im Umgang mit ihrem Gerät kennt man von der in Kanada beheimateten Gruppe. Und auch das Narrative sowie die Tatsache, dass auf der Bühne universell begabte Schauspieler aufs Aufmerksamste miteinander interagieren und nicht Spezialisten auf ihren Einsatz warten.

Diesmal aber ist zusätzlich noch in jeder Minute spürbar, dass ein Choreograf mit am Regiepult saß. Neben dem Cirque-Éloize-Mitbegründer Jeannot Painchaud als Regisseur sorgte nämlich das vermeintliche Enfant terrible des zeitgenössischen Tanzes, Dave St-Pierre, dafür, dass die Gesamtbewegung dieser auseinander hervorgehenden und einander überlagernden futuristischen Bilder und anrührenden, clownesken oder atemberaubenden Aktionen organischer wirkt denn je. Wenn praktisch die ganze Gruppe mit Keulen jongliert, die sieben Herren mit dem Rhönrad tanzen oder die wunderbare Kontorsionistin über Hände läuft wie über eine Brücke, dann wird einem kurz schwindelig bei dem Gedanken, jeder der zehn könnte theoretisch alles davon machen.

Gemeinsam aber färben sie mit ihrer Fantasie und ihren Körpern die trostlose Ödnis bunt, so dass am Ende nur ein Wunsch offen bleibt (neben dem nach einer weniger disparaten Musik): näher drangesessen zu haben an diesem so wunderbar feinabgestimmten Gesamtkunstwerk.

Cirque Éloize , täglich außer Montag und 28. und 29. November, Tollwood, Grand Chapiteau, Theresienwiese, bis 22. Dezember

Bilder wie aus einem Maschinenraum erzeugt der "Cirque Éloize" bei Tollwood. (Foto: Valérie Remise)
© SZ vom 26.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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