Thesen zur deutschen Sprache:Schlecht geredet

Über wenige Sprachen wird so schlecht geredet wie über die deutsche: Verkommt Deutsch zur Freizeitsprache, wird es vom Englischen verdrängt? Zeit für sieben Thesen zum Sprachgebrauch.

Peter Eisenberg

Die Deutschen interessieren sich mehr für ihre Sprache als noch vor ein paar Jahren. Weit mehr als jeder zweite Erwachsene sagt von sich, die Sprache sei ihm nicht gleichgültig.

Thesen zur deutschen Sprache: Deutsche Sprache, schwere Sprache.

Deutsche Sprache, schwere Sprache.

(Foto: Foto: Johannes Didi Amorosa)

Das ist eine gute Nachricht, wenn man bedenkt, welche Bedeutung der Sprache im öffentlichen Leben zugeschrieben wird: Das gerade vergangene Jahr der Geisteswissenschaften, die gerade ausgerufene Bildungsrepublik, fast alle Integrationsbemühungen, die meisten Leistungstests für Schüler und ein wichtiger Teil der auswärtigen Kulturpolitik haben ein Fundament im richtigen Umgang mit der Sprache.

Weniger optimistisch stimmen die Gründe für das Interesse. An erster Stelle stehen Unzufriedenheit über den Zustand oder sogar Beunruhigung über die Entwicklung der Sprache. Damit ist zuerst der Wortschatz gemeint, weit danach folgt die Orthographie.

Der Satzbau wird im Zusammenhang von Chat und SMS genannt, die Lautung als Nuschelei oder Dialektartikulation in den Medien. Bei den Wörtern geht es um unverständliche Neubildungen aller Art, um Bedeutungsveränderungen in einer voll kuhlen Jugendsprache und immer wieder um Fremdwörter. Sie scheinen den Zusammenhalt der Sprache durch Unterminierung des Zusammenhalts der Sprecher zu bedrohen.

Das stärkste Interesse besteht allerdings am guten und richtigen Deutsch. Eine institutionalisierte Sprachberatung gab es bis in die siebziger Jahre hinein so gut wie nicht, heute wird damit richtig Geld verdient. Allein die Sprachberatungsstelle des Duden hat als die größte von etwa zehn Auskunfteien jährlich mehr als 40 000 Anfragen zu bearbeiten.

Polemischer Diskurs

Bis zu diesem Punkt kann man halbwegs fundiert über Fakten sprechen, die das Verhältnis der Sprecher zu ihrer Sprache betreffen. Das ist anders bei dem, was im öffentlichen Diskurs über das Deutsche geredet und geschrieben wird.

Dieser Diskurs wird von einer sehr kleinen Sprechergruppe getragen, betrifft aber natürlich die Sprache als ganze, die Sprache aller. Er ist zuerst ein Diskurs der Meinungen, nicht des Austauschs von Fakten oder des Austauschs von Erkenntnissen, die auf Fakten beruhen.

Und er rankt sich allein um eine kleine Zahl wiederkehrender Verfallsthesen. Träfen sie zu, wären viele praktische Bemühungen um das Deutsche von vornherein sinnlos. Glücklicherweise sind sie fast durchweg unzutreffend, aber der destruktive Charakter dieses Diskurses bleibt eine Hypothek.

Die Grundthese hat zwei Seiten: Außerhalb des deutschen Sprachgebiets werde das Deutsche nicht mehr verwendet, innerhalb des deutschen Sprachgebiets breite sich das Englische aus.

Beides sei die Folge eines Statusverlustes des Deutschen, und beides habe Auswirkungen auf die Sprache selbst: Sie verlottere, verkümmere, verarme und sei den Anforderungen universeller Verwendung nicht mehr gewachsen. - Die Grundthese erscheint in einer Reihe von Ausprägungen, die mal den Blick nach innen und mal den nach außen forcieren. Die wichtigsten sind folgende:

Das Deutsche, so die zweite These, werde nicht mehr als internationale Wissenschaftssprache verwendet, sein Ansehen sinke. - Die These trifft zu, insofern das Deutsche in bestimmten Disziplinen immer weniger verwendet wird, ist aber irreführend, insofern sie einen Vergleich mit dem Englischen einschließt.

Deutsch hatte niemals auch nur annähernd den Rang einer Lingua franca der Wissenschaft, wie ihn Latein hatte und Englisch hat. Es war allenfalls für eine Reihe von Disziplinen wie die Altertumswissenschaft, die Sprachwissenschaft und die Physik von Bedeutung. Das ist das eine.

Englisch lässt die Wissenschaft verarmen

Das andere ist die Rolle des Englischen heute. Sie ist auch deshalb nicht mit der des Deutschen vor 120 Jahren zu vergleichen, weil als Lingua franca nicht Englisch, sondern eine Reduktionsform des Englischen fungiert. Sie führt weniger zu einer Bereicherung des Englischen als zu einer Verarmung der Wissenschaft.

Das Deutsche verfügt über eine voll ausgebaute Wissenschaftssprache und wird diese nach menschlichem Ermessen für die absehbare Zukunft behalten.

Die dritte These stellt ein Komplement der zweiten dar: Das Deutsche verkomme zur Freizeitsprache. - Die Wirkung dieser Aussage beruht auf einem Appell an Konnotationen von Freizeitgesellschaft, kollektiver Freizeitpark usw. Naherholungssuchende gehen an Brückentagen ihren Vergnügungen nach oder verunreinigen als Opfer des Massentourismus bestimmte Mittelmeerstrände, alles unter Vermeidung des Äußerns vollständiger Sätze des Standarddeutschen.

Diese Nachrede ist nicht einmal eine sinnvolle Provokation. Man fragt sich, warum sie so bedenkenlos verbreitet wird. Neuere Untersuchungen sprechen vom Deutschen als der wahrscheinlich vielgestaltigsten Sprache Europas.

Lesen Sie auf Seite 2 mehr über Angliszismen und Knochenbau.

Schlecht geredet

In der vierten These geht es um den Einfluss des Englischen. Das Englische verdränge das Deutsche, und die verdrängte Sprache gerate auch noch unter schlechten Einfluss.

Die härtesten Formulierungen sprechen von Zerstörung des Knochenbaus und des Tiefencodes. Zurück bleibe die leere Hülle einer Freizeitsprache. - Tatsächlich ging der Einfluss des Lateinischen, des Griechischen und sogar des Französischen auf das Deutsche in der Vergangenheit wesentlich weiter, als der des Englischen gehen könnte.

Einen strukturellen Einfluss des Englischen gibt es praktisch nicht, schon weil das Deutsche eine sehr gefestigte Grammatik hat und mit dem Englischen nahe verwandt ist. Ein Anglizismus wie "Doping" ist im Deutschen sofort integriert, während im Französischen ein erheblicher lautlicher, prosodischer und grammatischer Aufwand getrieben, außerdem das Verhältnis zu "dopage" ausgehandelt werden muss.

Was dem Deutschen als mangelnde Integrationskraft gegenüber Anglizismen vorgehalten wird, ist meistens frei erfunden. Auch bei den Anglizismen geht es nicht um die Sprache, sondern um Albernheiten oder Anmaßungen eines Sprachgebrauchs, dem wir entschlossen das Wasser abgraben sollten, ohne an der Sprache herumzumäkeln.

Die fünfte These stellt einfach fest, das Deutsche sei heute nicht mehr so gut, wie es einmal war. - Tatsache ist, dass das Deutsche heute einen größeren Wortschatz und eine differenziertere Syntax hat als zur Zeit der Klassik.

Die sechste These ist politisch ebenso gefährlich wie sprachwissenschaftlich unhaltbar: Das Deutsche sei keine Weltsprache mehr, der Traum von der Weltsprache ausgeträumt. - Das Deutsche war niemals Weltsprache, gleichgültig wie man den Begriff fasst. Wir haben vielmehr das Privileg, nicht mit einem ständigen Selbstbetrug umgehen zu müssen, mit dem einige Nachbarn fertigwerden müssen.

Und schließlich die siebente, alle anderen verharmlosende These: Das Deutsche werde von seinen Sprechern verachtet, ja gehasst. Ihre härteste Variante spricht von Deutsch als der gebellten Sprache der KZ-Aufseher und vom kollektiven Sprachtrauma durch die Sprache des Faschismus. - Wer die Nachkriegszeit auch nur als Heranwachsender erlebt hat, wird sich einer Sprachscham erinnern, der man sich im Ausland oder beim Umgang mit Ausländern kaum entziehen konnte und meist auch nicht entziehen wollte.

Last der Vergangenheit

Wer jedoch heute vom Sprachtrauma der größten Sprachgemeinschaft Europas spricht, opfert die politische Arbeit wie die Spracharbeit zweier Generationen seinen persönlichen Ansichten oder auch Interessen.

Wir wissen doch so viel über die Sprachbefindlichkeit der Deutschen, dass die These vom Sprachhass als falsch bezeichnet werden kann. Und besonders destruktiv wirkt sie, wenn sie von Sprachwissenschaftlern vertreten wird.

Spätestens seit Mitte der siebziger Jahre ist in der Sprachwissenschaft nicht von einer Sprache des Nationalsozialismus, sondern vom Sprachgebrauch der Nationalsozialisten die Rede. Die Sprache wurde missbraucht, aber sie blieb sie selbst, trotz einer großen Zahl belasteter Wörter.

So viel zu den Thesen. Man stelle sich unsere Lage vor, wäre das Deutsche damit zutreffend beschrieben. Immerhin erklärt sich, warum die an Sprache Interessierten ein Gefühl von Bedrohtheit haben.

Befindlichkeiten

Auf der Suche nach den Gründen für das öffentliche Lamento stößt man zuerst auf solche, die das Deutsche ebenso betreffen wie andere Sprachen, die nach Größe, Ausbau und Verwendungsvielfalt vergleichbar sind. Ein erheblicher Teil des öffentlichen Diskurses schlägt die Sprache, wo er den Esel gesellschaftlicher, kultureller und ökonomischer Wandel meint.

Aber nicht alles haben wir mit unseren Nachbarn gemeinsam. Polen hat ein Sprachgesetz verabschiedet, dessen Inhalt wir für schädlich halten, aber der Vorgang war möglich.

Frankreich vertritt seine Interessen auf europäischer Ebene mit allem Nachdruck, teilweise mit aller Härte en gros und en détail. Die Schweiz verfügt über hochangesehene zentrale Sprachdienste bei der Bundeskanzlei, die einen erheblichen Einfluss auf die Formulierung wichtiger öffentlicher Texte haben und so weiter.

Selbstverständlich ist es nicht Schuld des Kulturstaatsministers unserer Bundesregierung, dass er nicht über Mittel für eine nationale Sprach- und Sprachenpolitik verfügt. Aber ein Vorteil ist es nicht, wenn diese Politik entweder gar nicht oder nur gelegentlich nach politischer Opportunität artikuliert wird.

Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt

Ein Spiegel der politischen Verhältnisse ist die private Fürsorge, deren sich die Sprache in Deutschland zu erwehren hat. Eine dreistellige Zahl von Vereinen, Stiftungen und Gesellschaften fühlt sich für ihren Schutz oder ihre Rettung verantwortlich.

In den meisten Fällen wieder dadurch, dass man den Verfall beklagt. Das Unisono aus allen Richtungen wird unüberhörbar. Es dürfte wenige Sprachen auf der Erde geben, über die so schlecht geredet wird wie über die deutsche. Gut möglich, dass es gar keine gibt. Hören wir damit auf und wenden wir uns der Arbeit zur Verbesserung des Sprachgebrauchs zu.

Der Autor ist emeritierter Professor für Linguistik an der Universität Potsdam. Er war maßgeblich an der Korrektur der Rechtschreibreform 2006 beteiligt.

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