Theaterkritik:Tektonisches Beben

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Antanzen gegen Widerstände: Das Ballett des Gärtnerplatztheaters feiert mit den "Frankfurt Diaries" in der Reithalle einen rauschenden Erfolg

Von Eva-Elisabeth Fischer, München

Der Schrecken fährt einem in die Glieder und schwappt in Wellen fort. 20 Tische, donnernd vorwärts gerückt, je fünf in Viererreihen hintereinander exakt Kante auf Kante, mit Abständen dazwischen, dass gerade noch ein beweglicher Mensch hindurchpasst, stellen das Abbild einer perfekten Ordnung dar. Sie wird gründlich unterlaufen. "One Flat Thing, Reproduced" hat der Choreograf William Forsythe das Stück bewusst deskriptiv genannt. Sein Interesse gilt zuallererst den Strukturen - auch in diesem getanzten tektonischen Beben unter klar gegliederter Oberfläche. Im Jahr 2000 war dies seine Begrüßung der Jahrtausendwende mit dem Ballett Frankfurt.

Wenn nun das Ballett des Gärtnerplatztheaters diesen apokalyptischen Knaller ans Ende eines Abends setzt, der William Forsythe und den leibhaftigen Folgen seiner Tanzforschungen gewidmet ist unter dem Titel "Frankfurt Diaries", so ist das als analytische Untersuchung einer fortwährenden Untersuchung zu verstehen. Man befragt wieder einmal das Ballett mit den Mitteln des (transformierten) Balletts und zerlegt es dabei in seine Einzelteile. Präsentiert es dann, neu zusammengebaut, als vibrierendes Finale. Deshalb geht Teil 1, Antony Rizzis vierteilige Befragung der Methode Forsythe mit Beiträgen dreier ehemaliger Tänzer und einer Tänzerin des Balletts Frankfurt, nahtlos über in Teil 2, mündet in "One Flat Thing, Reproduced".

Forsythes Streben, das Bewegungsspektrum des Tänzers zu erweitern mit dem Ziel, fakultative Grenzen und überlieferte Normen auszutesten und letztlich zu sprengen, kumuliert in einer Improvisationsmethode, deren Aufgaben immer wieder neue sind. Rizzi inszeniert erst mal Showtime samt Conférencier, der dem Zuschauer mit dem Nichts im leeren Bühnengeviert in der Reithalle konfrontiert, das Georg Reischl, Christopher Roman, Michael Schumacher und Allison Brown zu füllen trachten mit Beispielen aus dem Arbeitsalltag des Balletts Frankfurt.

Sie scheitern, müssen scheitern, denn sie feilen an Stückwerk, demonstrieren detailverliebt Szenen aus dem Ballettsaal und auf der Probe als harte Körperforscherarbeit, die sich jedoch zu keinem Stück fügen wollen. Forsythes Improvisationen als eine Folge unsichtbarer Linien, das Antanzen gegen vermeintliche Widerstände mit verschiedenen Körperteilen, das Ausloten des Raumes horizontal wie auch vertikal verkleckert als wenig stringente Bestandsaufnahme, als l'art pour l'art ohne Klimax. Dies allerdings garniert mit interessanten Blickfängen, wenn etwa Fotos mit ausgefahrenen Ellbogen und tastenden Füßen aufgelesen werden oder Proben-Vide-Mitschnitte die live getanzte Szene virtuell verstärken. Einzig Allison Browns Pas-de-deux-Studie, gedoppelt hinter einer Gazewand, transponiert die Spannung überdehnter Torsi und Gliedmaßen in ein sehnsüchtiges Tanzpoem.

In "One Flat Thing, Reproduced" hat der Komponist Thom Willems elektronisch eine brodelnde, an den existenziellen Grundfesten rüttelnde zweite Ebene eingezogen. 14 Tänzer und Tänzerinnen mit knochenbrecherischer Wendigkeit - was die alles können!- entzünden anarchisches Chaos in die geometrische Tisch-Anordnung, die sie recht eigentlich in ihrem Bewegungsradius erheblich beschränkt. Die glatten Flächen dienen ihnen zum Kriechen, Fallen, Strecken und Dehnen auf allen Ebenen. Das Chaos ordnet sich scheinbar wieder selbst mittels Paarbildungen, als zögen sich je zwei Tänzer(innen) gegenseitig magnetisch an. Und zerstiebt letztlich in tumultuöser Unübersichtlichkeit, unterwandert vom unheimlichen Wummern und Splittern einer berstenden Welt, eines stürzenden Universums. Und trifft deshalb exakt den Angstnerv in einer längst unübersichtlichen Welt. Und auch den des restlos begeisterten Publikums in der Reithalle.

© SZ vom 23.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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