SZ-Serie: Große Journalisten (IX):Der Kulturkonservative

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SZ-Serie über große Journalisten (IX): Die deutsch-französische Geschichte des Victor Auburtin

HILMAR KLUTE

Während eines festlichen Banketts in Rom hatte sich der Korrespondent des Berliner Tageblatts für einige Augenblicke entschuldigt. Er kam nicht zurück. Zwei Tage lang war Victor Auburtin verschwunden. Dann fand man ihn im Forum des Kaisers Trajan sitzen und Katzen füttern; Frack und weiße Binde hatte er noch an. Jammervoller kann eine journalistische Laufbahn nicht enden: in einer historischen Ruine und in geistiger Umnachtung. Sofern man der Überlieferung von Walther Kiaulehn glaubt, der sehr gerne Auburtin-Anekdoten erzählt und gelegentlich erfunden hat.

Überhaupt hat das Anekdotische den Blick auf diesen Journalisten und Schriftsteller so gründlich verstellt, dass von ihm nur ein reliefartiges Portrait zu sehen ist: das etwas hochmütige Gesicht eines preußischen Dandys, dem der Wert einer Aalpastete teurer war als der einer politischen Nachricht. Weltferne wurde ihm so selbstverständlich unterstellt wie elitärer Kulturkonservatismus. Und selbst wenn von dem schlimmen Bruch seiner Biografie während des Ersten Weltkriegs die Rede ist - Victor Auburtin gilt, sofern sein Name geläufig ist, als Dichter gepflegter Causerien, harmloser feuilletonistischer Alltagsprosa, also als die Light-Variante von Kurt Tucholsky. Ein bisschen ist er das wohl auch gewesen, der Enkel des Leibkochs Friedrich Wilhelm III. Allerdings schon dieses Stammbaumblättchen ließ die Freunde simpler Formeln, die sich durch Zufälle bestätigt sehen, mit dem Kopf nicken: Preuße und gleichzeitig Gourmet.

Aber Auburtins Zerrissenheit war wohl politischer Natur. Als Journalist grätschte er zwischen Berichterstattung und Essayistik, malte er aus kleinen vermischten Nachrichten Sittenbilder einer spätbürgerlichen Gesellschaft, die ihre Moral gegen eine immer technischer, immer schneller werdende Alltagswelt verteidigen muss. Und zeigte schließlich den Leerlauf deutscher und französischer Politik, die sich in diplomatischen Gesten erschöpfte und dem Irrwitz militärischer Willkür das Feld überließ. Aber vielleicht hat er ein bisschen zu fein gespottet, denn sein Satz "Wir Feuilletonisten überleben uns nicht" traf auf Auburtin besonders zu. Nach seinem Tod 1928 war sein Name schnell vergessen.

Als Auburtin in Berlin geboren wurde, am 5. September 1870, war es gerade zwei Tage her, dass von Moltke bei Sedan das Heer Napoleons III. besiegt hatte. Dass Auburtins preußisch gesinnter Vater mit französischen Wurzeln (nicht hugenottischen) zum Vornamen Victor griff, war der patriotischen Euphorie geschuldet. Für den Lebensweg des selig durch Tübingen, Bonn und Berlin bummelnden Kunst- und Literaturstudenten hatte er keine Vorbedeutung. Erst als Theodor Wolff, Chefredakteur des Berliner Tageblatts, den schon 40-jährigen Gelegenheitsschreiber als Redakteur einstellte, begann Auburtins sanfter Siegeszug durch die deutsche Publizistik. Seine Skizzen erschienen Unterm Strich und waren populär wie Schlager. Die Berliner kauften das Blatt dieser Texte wegen, Tucholsky empfahl seinen Frauen "kleine Vorspeisen von Auburtin", Kiaulehn, Jacobsohn und Korfiz Holm priesen seine Bücher, die so verwunschene Titel trugen wie Die Onyxschale, Pfauenfedern und Ein Glas mit Goldfischen.

Auburtin war ein entspannter Skeptiker. Er fand die Futuristen albern, denunzierte sie aber nicht nach Art der Kulturreaktionäre, sondern spielte sie kokett gegen die gleichfalls ungeliebten Kubisten aus, deren Menschenbilder aus lauter Zigarrenkisten bestanden hätten: "Aber immerhin waren die Zigarrenkistenmenschen noch Menschen nach dem alten Kanon, und wir konnte sie nach Proportion und Bewegung begreifen und beurteilen. Die Futuristen haben alle Formen aufgelöst, sie machen nur noch Punkte und Linien. Die Malerei ist an ihrem Ende."

Etwas kategorischer hat Auburtin seinen Pessimismus in der Broschüre Die Kunst stirbt (1911) postuliert und sich dafür viel publizistischen Ärger eingefangen. Wohl wahr, Auburtins Gutachten verpflichtet sich einem klassischen Bildungsgedanken. Aber aus seiner Diagnose liest man die Angst heraus, dass eine aufs Funktionale abgestimmte Zivilisation die Kunst verschlingt. Karl Kraus, ganz Wiener Wüterich, schimpfte Auburtin einen "Obertäng", und verkannte, dass dem Preußen das Zackige fremd war. "Eisbärenhafte Tollpatschironie" hätte Auburtin das genannt.

In Paris berichtete er über das gesellschaftliche Leben, das sich 1914 verfinsterte. "Die Süßigkeit des Nichts", die Auburtin hier genoss, wurde vom heraufziehenden Krieg verbittert. Immer wieder hatte Auburtin die entscheidenden Figuren der französischen Gesellschaft porträtiert: Den Dichter Anatole France, den Präsidenten Poincaré, am eindringlichsten aber den Sozialistenführer Jean Jaurès ("der vollkommenste Menschen, der mir je begegnet ist"). Diese Euphorie hat mit der Liebe des Deutschen zu Frankreich zu tun, das Auburtin bald aber janusköpfig vorkam: "Das Volk Voltaires, gewiss, aber auch das Volk Marats." Und was Jaurès "Freundschaften der Völker nannte", musste der Politiker mit dem Leben bezahlen. Auburtin betritt das Café, kurz nachdem Jaurès dort von einem Attentäter erschossen wird: Er sah ihn "tot auf zwei aneinander gerückten Marmortischen des Café Croissant. Und der Krieg konnte beginnen."

Einem deutschen Korrespondenten war jetzt nur zur Flucht zu raten. Auburtin trat sie mit einer Gemächlichkeit an, die zum Verhängnis wurde. In Dijon, wo er ausgiebig in einem Restaurant speiste, verhaftete ihn die Polizei. Er blieb ein politischer Häftling, ständig in Gefahr, füsiliert zu werden, drei Jahre lang insgesamt, in denen der blonde hoch gewachsene Elégant zum nierenkranken Siechen ergraute. Aubertin In seinem Bericht Was ich in Frankreich erlebte: "Die Deutschen nennen mich einen Französling, und diese Franzosen hier haben erkannt, daß ich ein alldeutscher Hetzer bin.. . und das Schwierige, das Beschämende ist, daß sie alle beide recht haben. Selig der Mann, der Krause heißt und aus Tilsit gebürtig ist. Er steht auf Felsengrund." Auburtin saß hinter Felsenmauern, fraß Raupen, zeigte Kühnheit bei absurden Verhören und hoffte auf eine ernste Erkrankung, die ihn haftunfähig machen würde. Diese kam als Urämie. Über Genf fuhr er zurück nach Berlin.

Sein Blatt schickte ihn wieder ins Ausland, zunächst nach Madrid, zuletzt nach Rom. Auburtins letztes Buch heißt Einer bläst die Hirtenflöte und enthält einen Satz, der auburtinistischer ist als all die wahren und falschen Anekdoten: "Ich schloß das Fenster und zog mich tief beschämt zurück."

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