SZ-Serie: Aufmacher (XX):Objektivität ist Schweinerei

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SZ-Serie über große Journalisten (XX) - Joseph Roth

MICHAEL FRANK

Journalisten beargwöhnen oft insgeheim ihr Tun als mindere Kunst, machen sich nebenbei an Romane und Erzählungen, versuchen also, "Literatur" zu produzieren, um gewisse Dauerhaftigkeit im Gedächtnis der Menschen zu erringen. Auch im Bilde, das sich die Gesellschaft von den Schreibenden macht, hat diese Sehnsucht ihre Entsprechung: Literatur, das ist es, was zählt; Journalismus, dieser Knecht der Aktualitäten und der Obsessionen der Zeit, hat in seiner dienenden Rolle nicht diesen Nachhall, auch wenn es ihm immer und immer wieder gelingt, sehr grundsätzlich und auf immer wahr zu sein.

(Foto: SZ v. 22.04.2003)

Joseph Roth ist ein besonders anschauliches Beispiel für dieses Gefälle im Gedächtnis an Werk und Persönlichkeit: Der Romancier, der Erzähler, der Novellist Roth ist als eines der monumentalen Talente der Zwischenkriegszeit allgegenwärtig, der Journalist, der Feuilletonist Roth gilt - sofern man überhaupt von ihm weiß - als glänzend zwar, aber doch eher als nette Nebenerscheinung. Wissenschaftliche Würdigungen seiner 16 Romane sind Legion, die seiner Feuilletons und Reportagen rar, der Literat verschattet naturgemäß den Journalisten. Roth brachte es dementsprechend in etwas eitler Ironie als einziger namhafter Autor fertig, diese Kluft damit zu überbrücken, dass er über Romane aus der eigenen Feder Kritiken schrieb. Berühmt ist die unter dem Titel "Selbstverriss", in der es heißt: "Es ist einigermaßen peinlich, einen so außerordentlich guten Schriftsteller, wie ich es bin, nicht ohne Strenge und Tadel behandeln zu können." Roth war ein rasanter, manischer Schreiber. Nimmt man die Zahl seiner Veröffentlichungen, dann wären die Romane und Novellen schon genug für ein Leben, erst recht die Zeitungsstücke.

Dann sind noch mehr als 500 Briefe überliefert, der heute erst einer näheren Betrachtung unterzogene dritte Strang seiner überquellenden Hinterlassenschaft. Welche Masse an Text - kann derlei Vielschreiberei noch Qualität, ja Brillanz bedeuten, zumal dieses kolossale Werk in kaum mehr als 20 Jahren entstanden ist? Joseph Roth wurde nur 44 Jahre alt. Er war von schwächlicher Konstitution, Schicksalsschläge wie die Geisteskrankheit seiner Frau und der Zwang, ins Exil zu gehen - der Altösterreicher Roth lebte 1933 in Deutschland - bremsten seine Schöpferkraft nicht, entflammten sie eher. So mutet der rasante Äußerungstrieb der jungen Jahre - übrigens oft in verfrüht altersweisem Duktus - wie eine zeichenhafte Ahnung an, dass ihm wenig Zeit beschieden sein würde: Er trank sich 1938 im Pariser Exil zu Tode.

Joseph Roth, Kind jüdischer Eltern, kam aus Schwabendorf bei Brody im damals österreichischen Galizien. In eine Zeit der Umbrüche und des grassierenden religiösen Nihilismus hineingeboren, charakterisierte er sich selbst so: "Ich bin ein Franzose aus dem Osten, ein Humanist, ein Rationalist mit Religion, ein Katholik mit jüdischem Gehirn, ein wirklicher Revolutionär." Der Kontrast im heimatlichen Brody, in dessen Bildungsinstitutionen er die großen Denker der europäischen Aufklärung genauso kennen lernte wie die eingeschworene Glaubenstraditionen der Ostjuden, wurde zur Lebensfrage seines ganzen Werkes: skeptischer Rationalismus, gläubiger Traditionalismus? Zwischen diesen beiden Polen lag der Maßstab seiner Weltsicht.

Der legendäre, nur eineinhalb Jahre überdauernde Neue Tag in Wien, der Vorwärts, die Frankfurter Zeitung, deren Feuilleton er zeitweilig leitete, die Prager Zeitung brachten seine Feuilletons, seine Elegien und Polemiken, seine Literaturbesprechungen, seine Länderreportagen über Polen, Italien, Albanien, und seine Gedichte. Roth war mit Egon Erwin Kisch befreundet, kein einfacher Zusammenstand, weil letzterer ihn wegen seines allumfassenden Schreibtalentes beneidete. Beide geben einen lebenden Kontrast ab.

Kisch, der leidenschaftliche Rechercheur, vertritt das Ideal der höchstmöglichen Objektivität. Roth, der sich nie vor dem Wörtchen "ich" scheut, vertritt das Gegenteil: Er hält Objektivität für Chimäre, predigt und lebt in seinem journalistischen Werk die Subjektivität. Er geht so weit, schon den Anschein, um reine Objektivität bemüht zu sein, als Fälschungsversuch an der Wirklichkeit zu brandmarken: "Objektivität ist Schweinerei," exekutiert er das Bemühen der Kollegenschaft. Texte, die den Wahrheitsanspruch stellen, kommen ihm geradezu verbrecherisch vor. Ihm scheinen nur solche Sichtweisen für den Leser zumutbar, die erkennbar das "ich" des Berichterstatters oder Deuters durchlaufen haben, die eindeutig von dessen Welt- und Wertvorstellungen berührt und damit gleichsam veredelt oder geadelt wurden, sich damit aber auch als Kunstprodukt jenseits der reinen Wirklichkeit offenbaren. Der Unterschied allerdings zum Schwall des Subjektivitätsgeschwafels heutiger postmoderner Ich- Poeten ist tief: So rastlos, wie er schrieb, fraß Roth Informationen in sich hinein, wusste über entlegendste Ereignisse oder abseitigste Theorien seiner Zeit Bescheid - verwechselte also Subjektivität nicht mit Ahnungslosigkeit.

Roth, einer der einflussreichsten Feuilletonisten deutscher Sprache, sah sich fraglos selbst als Moralist. Er verendete 1938 in einem Pariser Armenhospital, zermürbt von der Beobachtung des totalen Werteschwundes in Europa und dessen beklemmenden politischen Folgen. Die rasante Erosion, der die Vorstellungen von sozialem Zusammenhalt und politischem Anstand unterworfen waren, hatte auch seine Persönlichkeit erodieren lassen. Zuletzt, so geht die Legende, griff er nur noch nach zwei Dingen: der Feder und dem Branntweinglas. Der Schluss liegt nahe, Roths exzessiver Alkoholkonsum sei nichts anderes gewesen als ein langsamer Selbstmord. Seine letzte Lebensphase muss rauschhaft in jeder Hinsicht gewesen sein: Ein Delirium aus Alkohol, Erschöpfung, Verzweiflung und - Schaffensdrang. So kam es, dass Joseph Roth weit über seinen Tod hinaus "schrieb": Vieles erschien erst posthum, darunter die "Legende vom heiligen Trinker", die sich liest wie die Versöhnung mit dem eigenen Schicksal.

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