SZ-Serie: Aufmacher:"Der Rang höherer Insekten"

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Die neue SZ-Serie "Aufmacher - Vorbilder des Journalismus" sucht gerade auch die historischen Inseln im Meer der Massenproduktion.

WOLFGANG LANGENBUCHER / HERBERT RIEHL-HEYSE

(SZ v. 7. Dezember 2002) "Wenn ... Journalisten Bücher schreiben, bedürfen sie beinahe einer Entschuldigung. Wie kamen sie dazu? Wollen die Eintagsfliegen in den Rang höherer Insekten aufsteigen? Wollen sie, die dem Tag angehören, in die Ewigkeit eingehen? Professoren und Kritiker säumen den Weg, der in die Nachwelt führt. Dichter, die gleichsam schon von Geburt eingebunden waren, wollen manchmal eine genaue Grenze zwischen Journalistik und Literatur ziehen und im Reich der Ewigkeiten den Numerus clausus für Tagesschriftsteller einführen. Fremdwörter sind sehr selten glücklich und gültig verdeutscht worden. Sie bekamen meist einen präzisen, aber schiefen Sinn... , wie zum Beispiel das Wort: Tagesschriftsteller. Ein Journalist aber kann, er soll ein Jahrhundertschriftsteller sein. Die echte Aktualität ist keineswegs auf 24 Stunden beschränkt. Sie ist zeit- und nicht tagesgemäß."

Seit diesen selbstbewussten Feststellungen von Joseph Roth sind Jahrzehnte vergangen, in denen Hunderte von Journalistinnen und Journalisten ein Werk erarbeitet haben, auf die diese Einschätzung ebenso zutraf. Nur: Ein Bewusstsein für die Originalität, die historische Kontinuität und die Qualität des modernen Journalismus fehlt auch heute noch weitgehend. Dafür kokettiert der Beruf mit dem dummen Spruch, es gäbe nichts Älteres als die Zeitung von gestern. Dies ist schon deshalb falsch, weil Journalismus schon immer auch in Buchform, also in einem auf Dauer angelegten Medium stattfand. In den Bibliotheken wird damit nachprüfbar: Journalistische Arbeiten dienen der Aufklärung, der politischen (Korruptions-)Kontrolle, der Erkundung gesellschaftlicher Realität, der Gesellschaftskritik, den Lernprozessen einer Zivilgesellschaft. Sie schärfen unseren Tatsachenblick.

Prämisse der neuen SZ-Serie Aufmacher - Vorbilder des Journalismus ist also: Die Medien sind heute zwar riesige, industrialisierte Dienstleistungsbetriebe. Zu ihren Leistungen gehört aber auch der Qualitätsjournalismus als Kulturleistung von Rang. Journalismus kann wie Literatur, Musik und Kunst eine schöpferische Tätigkeit sein.

Aber lässt sich aus solchen für eine demokratische Gesellschaft unverzichtbaren Leistungen gleich ein "Kanon" zusammenbauen? Also das, was in der Literaturwissenschaft so definiert wird: die als verbindlich geltende Auswahl von Autoren und Werken. Roth, Kisch, Polgar - sie und andere Autoren von ähnlichem Rang werden in unserer Serie dokumentiert werden - manche den "Gebildeten" wohl bekannt, andere müssen dem Gedächtnis wieder gewonnen werden. Viele der Namen gehören in die tragische Geschichte der vertriebenen Vernunft, des Exils. Im Hitler-Reich erlitt der Beruf des Journalisten einen raschen Niedergang und wurde zum Propaganda-Instrument; nur wenige der Exilierten kehrten nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus in ihr Heimatland zurück. Mit dem Wiederaufbau einer Demokratie entstand der Beruf - wenigstens teilweise - neu. Neben Tages- und Wochenzeitungen trugen nun die "neuen" Medien Radio und Fernsehen zur Kultur des Qualitätsjournalismus bei.

Es drängt sich eine nachdenklich stimmende Einsicht auf: Juden haben den Journalismus deutscher Sprache groß gemacht. Diese Tradition beginnt im 19. Jahrhundert mit Heinrich Heine und Ludwig Börne. Man müsste historisch und kulturtheoretisch weit ausholen, um die Besonderheiten dieses Zusammenhanges von Judentum und Journalismus aufzuklären. Ein Ergebnis einer solchen Analyse hat Hilde Spiel in ihrem wunderbaren Buch Glanz und Untergang. Wien 1866-1938 einmal so formuliert: "Wiens Glanzzeit (ist) einem einzigartigen Augenblick der Geschichte, einer unwiederholbaren Symbiose zu verdanken." Dies gilt für die Literatur, die Kunst, die Musik, aber auch für den Journalismus - nicht nur in Wien, sondern auch in Berlin, München, Frankfurt oder Köln.

Wer der SZ-Serie folgt, wird entdecken, dass Journalismus terminologisch nicht zur Literatur geadelt werden muss, um "in den Rang höherer Insekten" aufzusteigen. Es zeigt sich, dass Journalisten nicht nur Aufmacher - also Schlagzeilen für ihre Zeitungen - produzieren können, dass sie vielmehr selbst als Aufmacher gebraucht werden: als Menschen, die sich und ihren Lesern die Augen öffnen, damit sich allen zusammen die komplizierte Welt ein wenig besser erschließt. Des Weiteren wird sich zeigen, dass schöpferische Leistungen - gewissermaßen als Inseln in einem Meer der Massenproduktion - auch im Journalismus zu zahlreichen identifizierbaren "Werken" geronnen sind. Von Kisch stammt übrigens ein früher Versuch, diese weit zurückreichenden Traditionen zu dokumentieren: 1923 gab er die Anthologie Klassischer Journalismus - Meisterwerke der Zeitung heraus. Nur nebenbei: der Aufbau-Verlag, der daran die Rechte hat, mag keine (Taschenbuch- )Ausgabe herausbringen, weil er sich davon nicht mal die Deckungsauflage verspricht.

Das Projekt der SZ ist nicht ohne Beispiel - in den USA etwa wurde an der New York University vor zwei Jahren erstmalig eine Liste der besten hundert Werke des US-Journalismus im 20. Jahrhundert aufgestellt: The Top 100 Works of Journalism. Was für diesen Versuch postuliert wurde, gilt auch für uns: "Wir rechneten uns gute Chancen aus, eine Diskussion in Gang zu bringen über die Frage, was dauerhaft wirklich guten Journalismus auszeichnet, speziell in einer Zeit, in der eher die Fehlleistungen des Journalismus die größte Aufmerksamkeit erlangen." Und natürlich machen wir uns auch diesen Gedanken von Mitchell Stephens zu eigen: "Unsere Liste hat auch unzählige Studenten, Journalisten und andere Bürger dazu inspiriert, sich mit Büchern zu befassen, die sie vielleicht nie vorher gelesen haben."

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