Suhrkamps Stiftungsrat tritt ab:Die literarische Lindenstraße

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In einem ebenso dürren wie unmissverständlichen Bulletin haben am die fünf Mitglieder des Stiftungsrates, der über "Kontinuität, Ruf und literarischen Anspruch" des Suhrkamp Verlages wache, ihr Mandat niedergelegt.

LOTHAR MÜLLER

Die jüngsten Entscheidungen über die Leitungsstruktur des Verlages seien, schreiben Jürgen Habermas, Hans Magnus Enzensberger, Alexander Kluge, Adolf Muschg und Wolf Singer, "ohne unsere Mitwirkung und ohne unseren Rat" gefallen. Für die Folgen einer "Entwicklung, auf die wir im Rahmen der eng beschränkten Befugnisse des Stiftungsrates keinen Einfluss haben, können wir keine Verantwortung übernehmen".

Dieser Rücktritt ist keine Überraschung. Er zieht lediglich die Konsequenz aus der Disproportion zwischen dem hohen symbolischen Gewicht des Stiftungsrates und seiner faktischen Einflusslosigkeit, die in den letzten Wochen in geradezu grotesker Weise hervorgetreten war. Aber mit diesem Befund ist das Problem nicht schon erfasst. Denn aus der Sicht seines Erfinders Siegfried Unseld hatte der Charme des Stiftungsrates ja gerade darin bestanden, dass er nicht als Machtinstanz, sondern als Beratungsgremium fungieren sollte.

Es scheint, als habe er den Fall, der jetzt eingetreten ist, nicht vorausgesehen: dass diejenigen, die im Verlag wichtige Entscheidungen treffen, gar keinen Beratungsbedarf haben. So konsequent unter diesen Bedingungen der Rücktritt des Stiftungsrates ist, so legitim ist auch die Gegenfrage: Warum hätte Ulla Berkéwicz, als sie sich selbst als Sprecherin einer neuen Geschäftsführung installierte, auf den Stiftungsrat Rücksicht nehmen sollen?

Denn es ist ja, formell gesehen, alles mit rechten Dingen zugegangen, als Ulla Berkéwicz Mitte Oktober in die Geschäftsführung des Suhrkamp Verlages eintrat. Sie besitzt als Erbin Siegfried Unselds 51 Prozent der Anteile am Verlag, 29 Prozent hält der Schweizer Andreas Reinhart mit seiner Gebrüder Volkart Holding AG, 20 Prozent der im Konflikt mit seinem Vater aus dem Verlag geschiedene Sohn Siegfried Unselds, Joachim Unseld. Die starke ökonomische Position war das Fundament des Anspruchs auf bestimmende Teilhabe am operativen Verlagsgeschäft.

Ist auch danach alles mit rechten Dingen zugegangen, als der verlegerische Geschäftsführer Günter Berg der drastischen Beschneidung seiner Kompetenzen, mit der er sich konfrontiert sah, nicht zustimmen mochte? Am 25. November 2003 gab der Verlag "in beiderseitigem Einvernehmen" die Trennung von Günter Berg bekannt. Auf Anfrage dieser Zeitung teilte der angeblich gekündigte Geschäftsführer Günter Berg mit, es sei ihm bisher keine formelle Kündigung seines Vertrages durch den Verlag zugegangen. Heinrich Lübbert, der Anwalt des Verlages und Testamentsvollstrecker Siegfried Unselds bestätigte, Günter Berg sei bis auf weiteres nur freigestellt.

Wie dem auch sei: Weder mit den anderen Gesellschaftern noch mit dem Stiftungsrat war diese Trennung im Vorhinein abgestimmt. Aber eben deshalb trieb sie nicht nur die Klärung der Machtverhältnisse im Verlag voran, sondern zugleich den Abschied des Suhrkamp Verlages aus der Ära seiner symbolischen Überhöhung. Im Stiftungsrat hatte sie noch einmal Gestalt angenommen. Über seiner Aufgabenstellung wie über seiner personellen Zusammensetzung stand in unsichtbaren Lettern geschrieben: Der Stiftungsrat ist der Hüter nicht nur des Verlages, sondern zugleich seines Anspruchs auf eine führende Rolle innerhalb der literarischen und intellektuellen Kultur Deutschlands.

Sein Rücktritt zeigt eher die Stärke als die Schwäche der neuen Geschäftsführung um Ulla Berkéwicz. Er zeigt aber zugleich, dass der Preis für diese Neuordnung mit einer verlustreichen Abstoßung von symbolischem Kapital verbunden ist.

In der Geschichte der Ästhetik gibt es das berühmte je ne sais quoi. Es ist ein irrlichterndes Surplus-Wesen, ein geheimnisvoller Überschuss, von dem niemand genau zu sagen vermag, worin er besteht. Es imprägniert das anmutig Schöne wie das konfliktreich Erhabene mit dem kostbaren Element der Unbegrifflichkeit. Ebenso flüchtig wie unverzichtbar, muss dieses Ichweißnichtwas im Kunstwerk enthalten sein, damit es als solches anerkannt wird. Gäbe es dieses Element nicht, so wäre das Kunstwerk identisch mit dem, was sich in Regeln fassen lässt.

In der Geschichte des Verlagswesens gab es das je ne sais quoi lange Zeit nicht. Erst durch den Spalt, den der wohlmeinende Begriff "Suhrkamp-Kultur" eröffnete, schlüpfte es in die Verlagsgeschichte hinein. Der Suhrkamp Verlag nahm, nicht ohne Stolz, das Je ne sais quoi in sich auf, und das Surpluswesen dankte es ihm durch die unablässige Produktion eines Überschusses an Bedeutung, bis hinein in den bisweilen verzerrten öffentlichen Widerschein der Neustrukturierung des Verlages in den vergangenen Wochen und Monaten.

Was bei Thomas Mann im positiven Sinne als Element der Kanonisierung funktioniert hat, lässt sich hier als Krisensymptom beobachten. Verjüngt ist Thomas Mann aus dem Prozess hervorgegangen, in dem seine eigene Familiengeschichte die Erfolgsgeschichte der "Buddenbrooks" fortschreibt.

Sehr zweischneidig wirkt demgegenüber der Prozess, in dem an die Stelle der "Suhrkamp-Kultur" die "Suhrkamp-Fiction" tritt, als Homestory aus der Frankfurter Lindenstraße, im ironischen Farce- und Comedyformat.

Dabei ist die Lage durchaus ernst. Siegfried Unselds Stiftungsvision ist in die Firmenstruktur eingegangen. Der Suhrkamp Verlag ist eine Stiftung, die nun nicht einfach den Stiftungsrat aus ihrer Satzung streichen kann. Er muss neu besetzt werden. Ein "gesetztes" Mitglied ist ihm verblieben: seine Vorsitzende Ulla Berkéwicz.

Sie muss nun neue Mitglieder für ein Gremium finden, das der Suhrkamp Verlag auf seinem Weg zum ganz normalen, familiengeprägten mittelständischen Unternehmen eigentlich nicht braucht.

© SZ v. 04.12.2003 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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