Streitgespräch:Wie man sie rankriegt

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Eine Debatte zur neuen Jugendliteratur über die NS-Zeit

Von Eva-Elisabeth Fischer, München

Im Laufe von 120 Minuten fielen zwei Sätze, die, wären sie gleich zu Anfang ausgesprochen worden, die Diskussion wesentlich verkürzt hätten. Was schade gewesen wäre. Denn nur selten erlebt man, wie vier Leute auf einem Podium angeregt und profund so etwas Überlebtes wie diskursive Gesprächskultur pflegen. Der Autor und Journalist Martin Schäuble also fragte: "Wie kriegt man die Jungen ran?" und thematisierte damit die Schwierigkeit, Jugendliche für ein zwar immer noch dringliches, aber oftmals überstrapaziertes Thema - den Holocaust - zu entflammen. Ist also, jetzt, da die Zeitzeugen aussterben, jedes stilistische Mittel recht, diese zur Lektüre von Büchern zu bringen, die von Autoren der dritten Generation geschrieben werden?

Mirjam Pressler, berühmte Übersetzerin und Jugendbuchautorin, befand aus berufenem Munde: "Eine gute Geschichte ist eine gute Geschichte. Da braucht es keine Fantasy." Pressler, sie saß im Publikum, hatte damit einem der beiden Gastgeber auf dem Podium dennoch nicht den Wind aus den Segeln nehmen können. Der Jugendbuchlektor Frank Griesheimer nämlich hielt unerschütterlich seine These aufrecht, wonach die drei an diesem Abend in der Münchner Stadtbibliothek diskutierten Bücher mit dem Rubrum "Neues Erzählen?" bestens eingetütet seien. Überzeugen konnte er allerdings nicht.

"Alice im Naziland, Abenteuer Holocaust? Neues Erzählen über die NS-Diktatur" beschäftigte als dritte Debatte unter dem Motto "Kontrovers" die Kritikerin Christine Knödler zusammen mit Frank Griesheimer als Gastgeber und die promovierte Politologin Katarina Bader, MedienProfessorin in Stuttgart und Mitglied im Stiftungsrat der internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz, sowie Martin Schäuble als Gäste mit drei sehr ungleichen Kinder- beziehungsweise Jugendbüchern: Zum einen David Safirs "28 Tage lang" und Marcin Szczygielskis "Flügel aus Papier". Beide Romane spielen im Warschauer Ghetto, der eine verpackt das Grauen des nahezu unmöglichen Überlebens während des Aufstands in eine Abenteuer- und Liebesgeschichte, während der andere das Kind, das überlebt, mittels Zeitmaschine ins Fantasy-Genre verfrachtet.

Genau dieser stilistische Wagemut erscheint Griesheimer als Beleg für neues Erzählen, zumal speziell das Motiv Rache in der alten Holocaust-Jugendliteratur ausgespart worden sei. Griesheimer, offenbar ein Alt-68er wie der Autor, war es auch, der als Einziger Buch Nummer drei verteidigte, das er überdies selbst lektoriert hat: Jürgen Seidels in den Augen der Mitdiskutanten gründlich misslungene, weil auf Äußerlichkeiten fixierte Fiktionalisierung einer Nazifrauen-Typologie in Gestalt der blonden Reni in "Blumen für den Führer".

Schäuble war von Safirs Holocaust-Thriller begeistert, Katarina Bader immerhin bescheinigte dem Buch exzellent recherchierten Faktenreichtum. Und außerdem: "Warum soll man nicht in die Trickkiste greifen?" Sie erwies sich, auch dank der intimen Kenntnis jugendlicher Auschwitz-Besucher, als bodenständige Realistin, als eine, die nicht an die Immunisierung durch Aufklärung glaubt und der die Formel "Nie wieder!" als unglaubwürdiges Lippenbekenntnis missfällt. Ihr ist es darum zu tun, den Opfern des Holocaust gerecht zu werden, die weiterleben durch Erzählungen. Egal, in welchem Genre, ob alt oder neu.

© SZ vom 12.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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