Sozialforschung:Vorschlag zur Krise

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Jan Philipp Reemtsma verlässt das Hamburger Institut für Sozialforschung. Er und sein Nachfolger im Gespräch.

interview Von Jens Bisky

"Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet" lautet der Titel des Abschiedsvortrags, den Jan Philipp Reemtsma am kommenden Freitag am Hamburger Institut für Sozialforschung halten wird. Vor dreißig Jahren hatte er das Institut als einen Ort unabhängiger Forschung gegründet. Öffentlich bekannt wurde es durch zwei Wanderausstellungen über den Vernichtungskrieg und die Verbrechen der Wehrmacht. Seit April leitet der Sozialwissenschaftler Wolfgang Knöbl das Institut mit mehr als sechzig Mitarbeitern, der Zeitschrift Mittelweg 36 - so genannt nach der Institutsadresse - und dem Verlag Hamburger Edition. Eine eigene Plattform für Sozialwissenschaften soll in diesem Jahr online gehen.

SZ: Sind Krisenzeiten eigentlich gute Zeiten für die Sozialforschung?

Wolfgang Knöbl: Soziologie war immer eine Krisenwissenschaft. Ihr ging es gut, wenn politische Anliegen die Forscher getrieben haben, wenn soziale und politische Probleme anstanden.

Aber ist nicht immer Krise? 1984, als das Hamburger Institut gegründet wurde, so wie heute?

Jan Philipp Reemtsma: Ja, nenne mir einer eine krisenfreie Zeit! Es ist die Aufgabe der Sozialwissenschaften, einen Vorschlag zu machen, worin die Krise besteht, und diesen Vorschlag unter die Leute zu bringen. Und wie sich eine solche Diagnose zu dem verhält, was in der Gesellschaft sonst so geredet wird.

Wenn man dem allgemeinen Gerede lauscht, hört man seit spätestens einem Jahr, seitdem zum IS-Terror, zur Euro- und Finanzkrise noch der Krieg in der Ukraine hinzugekommen ist, immer häufiger die Auskunft: Ich verstehe die Welt nicht mehr. Geht es Ihnen ähnlich?

Reemtsma: Das liegt daran, dass man ja erst später den Überblick hat - nicht, wenn man mittendrin ist. Dieses Überblicksproblem führt dazu, dass man dazu neigt, von Geheimnissen und Rätseln zu sprechen Ich glaube nicht, dass es Geheimnisse und Rätsel gibt, hinter die man kommen muss. Aber es gibt ein Problem: Man denkt gerne, dass man bestimmte Dinge mal hinter sich gebracht hat in der Geschichte. Diese Idee wird immer wieder enttäuscht. Aber wir sollten doch Desillusionierung für einen Gewinn halten. Aber das geht contre coeur, läuft uns zuwider.

Knöbl: Seit 1989, seit dem, was wir "Globalisierung" nennen, tun sich die Sozial wissenschaften schwer. Meine Disziplin, die Soziologie, hat derzeit auch deswegen große Schwierigkeiten, weil sie es versäumt hat, sich mit historischen Aspekten der Wirklichkeit auch unter vergleichenden Gesichtspunkten auseinanderzusetzen. Man kann natürlich immer aus der Distanz über die Ukraine oder Syrien forschen, aber die guten Arbeiten zeichnen sich durch Orts- und Sprachkenntnisse aus.

Wenn es um diese aktuellen Konflikte geht, würde ich eher Zeithistoriker fragen. Nach der allgemeinen Erwartung beschäftigt sich Soziologie mit Alltag, Lebenswelt, Normalitätserwartungen, für Eskalationen und Krieg sind Historiker zuständig.

Reemtsma: Die Herausforderung liegt darin, Krieg, die Gewalt zwischen Staaten und in Staaten, als eine Form von Normalität zu analysieren - und nicht als Ausnahmezustand, vor dem die Disziplin kapituliert. Soziologie als Analyse von Gesellschaft betrifft jeden Zustand. Ich glaube, dass das Institut in diesem Sinne in der Vergangenheit einiges getan hat.

Das Institut ist bekannt für die Wehrmachtsausstellungen, die Chronik der Protestbewegung, für Studien zur Gewaltgeschichte. Haben Sie einmal überlegt, einen Zeithistoriker zum Direktor zu machen?

Reemtsma: Nein.

Warum nicht?

Reemtsma: Ich habe die zeithistorischen Studien immer als soziologische begriffen - und so denken wollen. Ich glaube, dass gerade das die Stärke des Instituts in den vergangenen dreißig Jahren gewesen ist.

Knöbl: Ich würde nach wie vor behaupten, dass in der Soziologie die scharfen Begriffe geprägt werden. Aber ohne die Geschichtswissenschaft taugt Soziologie auch für die Gegenwartsdiagnose wenig. Es wird darauf ankommen, diese beiden Disziplinen auch theoretisch am Institut zu verknüpfen: die Geschichtswissenschaft durch Soziologie begrifflich herauszufordern und die Soziologie von der Geschichtswissenschaft belehren zu lassen. Darin liegt die Zukunft des Instituts.

Als er in Bielefeld anfing, umriss Niklas Luhmann sein Programm so: Forschungsvorhaben - Theorie der Gesellschaft; Laufzeit - 30 Jahre; Kosten - keine. Was wollen Sie hier in Hamburg machen?

Knöbl: So knapp kann ich es nicht sagen. Wir haben, erstens, eine Doktoranden-und Postdoktorandengruppe ausgeschrieben unter dem Titel "Makrogewalt". Damit wollen wir den Schwerpunkt, den das Institut hatte, fortsetzen. Vielleicht mit der Akzentverschiebung hin zu stärkerer Theoriearbeit, hin zu mehr Vergleich, auch zu Fragen nach dem Verhältnis von Kapitalismus und Gewalt, von Recht und Gewalt. Dann wird es, zweitens, einen Schwerpunkt zur Soziologie der Herrschaft und des Konflikts geben, wobei wir die Arbeitsbereiche des Instituts geografisch ausweiten werden. In der Vergangenheit war das Institut stark auf Deutschland und den sowjetischen Herrschaftsbereich ausgerichtet. Vorstellen könnte ich mir nun eine politische Soziologie der Demokratie in Spanien, Portugal, Frankreich, in Griechenland.

Worum soll es da gehen?

Knöbl: Wir würden uns etwa die politische Soziologie des Steuerstaats anschauen. Wie steht es um die Verwaltung? Wie stark sind die Durchgriffsrechte und Durchgriffsmöglichkeiten? Ein Konglomerat von Studien könnte uns ein Bild von Europa zeigen, durchaus in zeitdiagnostischer Absicht. Ich würde wahnsinnig gern eine Soziologie des Steuerstaats in Griechenland lesen. Ein dritter Schwerpunkt wäre schließlich die Soziologie des Rechts, die wir hier am Institut verankern wollen.

Eine Soziologie des griechischen Steuerstaats könnte viele interessieren. Wie geht man so was an?

Knöbl: Ich glaube, man erfährt wenig über eine Gesellschaft, wenn man nur hoch aggregierte Daten liest, die von der Weltbank oder von wem auch immer zur Verfügung gestellt werden. Man muss auch ein Gespür für die konkrete Arbeit von Verwaltungen bekommen.

Alle Aktualitäten können Sie nicht bearbeiten. Wie sieht Ihre Reihenfolge der Dringlichkeit aus?

Reemtsma: Das ist eine Frage, die in Interviews gern gestellt wird, die aber im Ernst nicht beantwortbar ist. Man hat keine Liste. Man hat gewisse grundlegende Interessen und dann arbeitet man mit Leuten. Das ist ein großes Zufälligkeitsarrangement. Sie können Wissenschaft nicht als Planwirtschaft betreiben.

Knöbl: Es wird aber immer wieder versucht.

Reemtsma: Das geht nicht. Wolfgang Knöbl hat hier Entscheidungsfreiheit, davon muss er Gebrauch machen - das heißt auch, dass er immer in der Lage sein muss, Planungen wieder über den Haufen zu werfen. Man muss hinterher gut begründen können, warum man etwas gemacht hat.

Knöbl: Das Ziel ist es, hier einen intellektuellen Zusammenhang zu etablieren. Dafür haben wir enorme Möglichkeiten: mit der Zeitschrift Mittelweg 36, die sechsmal im Jahr erscheint, mit dem Internet-Vorhaben "Soziopolis" und unserem Verlag, der "Hamburger Edition". Das gibt uns die Möglichkeit, in Debatten einzugreifen. Dann müssen wir nicht mehr auf die Wehrmachtsausstellungen zurückblicken, die enorm wichtig waren. Aber es ist nicht unser Bestreben, eine neue Ausstellungskultur zu pflegen.

Reemtsma: Diese Ausstellung ist ja im Zusammenhang eines größeren Projektes entstanden und hat sich dann verselbständigt, weil wir nicht geahnt hatten, was wir damit auslösen. Und dann haben wir fast zehn Jahre dieses Land geplagt mit zwei Ausstellungen über die Verbrechen der Wehrmacht.

Und das mit Erfolg . . .

Reemtsma: Es wird niemals jemand wieder so über die Wehrmacht sprechen, wie das vor 1995 der Fall gewesen ist. Wir haben die Art und Weise, wie darüber geredet wird, fundamental verändert. Aber die Ausstellungen waren niemals das Modell, nach dem das Institut arbeiten sollte.

An Studien und Zeitdiagnosen fehlt es gegenwärtig gewiss nicht. Da geht es etwa um "Müdigkeitsgesellschaft" und "erschöpfte Subjekte", wobei man immer denkt, schlaft doch mal richtig aus . . .

Knöbl: Sie sprechen das an, was "Public Sociology" heißt. Wie muss Soziologie sich verkaufen, um in der Öffentlichkeit präsent zu sein. Ich selber habe eine ambivalente Haltung dazu. Die klassischen Studien der "Public Sociology", etwa David Riesmans "Die einsame Masse", haben davon gelebt, dass sie theoretisch ambitioniert und gleichzeitig reich an empirischem Material waren.

Im Deutschen wäre Ulrich Becks "Risikogesellschaft" das Beispiel schlechthin. Natürlich muss Soziologie öffentlich werden und muss es vermeiden, immer trivialere Ergebnisse für immer engere Zusammenhänge zu präsentieren. Aber man muss einen Mittelweg finden zwischen dem Mut zum großen Wurf und harter empirischer und theoretischer Arbeit.

Viele Zeitdiagnosen trafen in den Sechziger- und Siebzigerjahren den Nerv, weil man vom Nationalstaat ausgehen konnte. Wer damals über die USA sprach, sprach von der Gesellschaft als der modernsten. Es schien klar, dass ihr alle nachfolgen werden. Davon kann man heute nicht mehr ausgehen. Zeitdiagnosen sind schwieriger und riskanter geworden.

Aber es gibt doch das Bedürfnis nach Zeitdiagnose, danach zu wissen, in welcher Situation man lebt. Gibt es etwas in der Gegenwart, was Sie irritiert?

Reemtsma: Ich bemühe mich darum, diese Irritationen nicht aufkommen zu lassen und die Fragen so zu durchdenken, dass sich die Irritation auflöst. Was passiert, ist immer extrem unwahrscheinlich, aber es ist auch wahrscheinlich, denn sonst wäre es ja nicht da. Bei Niklas Luhmann war es sehr produktiv, davon auszugehen, dass alles unwahrscheinlich ist. Bei anderen dient es nur dazu, einen gewissen Erregungszustand aufzubauen. Und den mag ich nicht.

Die alte Nachbarschaft von Soziologie und Kulturkritik wollen sie also beenden?

Reemtsma: Sie ist nicht notwendig. Ich finde sie inzwischen eher langweilig, weil sie nur noch Vorhersehbares produziert. Darum ist Adorno in diesem Teil seines Werks langweilig geworden.

Knöbl: Ich bin sehr für die Trennung von Tatsachen und normativen Fragen. Allerdings glaube ich, dass sich die Soziologie, weil diese Trennung nie ganz durchzuhalten ist, an einem bestimmten Punkt auch normativen Fragen stellen muss. Dann muss sie sich aber mit der Philosophie und anderen Disziplinen ins Benehmen setzen, um ihre Urteile abzusichern. Es hat niemand einen privilegierten Zugang zu normativen Standpunkten.

© SZ vom 02.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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