Selbstmordforen:Klick in den Abgrund

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Zynische Sterbehilfe, vertrauliche Lebenshilfe: Selbstmordforen im Netz

SONJA ZEKRI

Es war das Rezept eines angekündigten Todes. Gleich literweise wolle er Schlaf-, Antibrechmittel und Frostschutz einnehmen, schrieb der 17-jährige Patrick Marks aus Lawrence, Kansas, in einem Suizid- Forum: "Wenn ich nicht zurückschreibe, hat es funktioniert." Die Reaktionen der anderen Gesprächsteilnehmer reichten von "viel Glück" bis zu einer Wette um fünfzig Dollar, dass die Methode fehlschlagen würde. Sie schlug nicht fehl. Amy Viscuoso, eine Netz-Bekanntschaft, war Zeugin. Sie verfolgte den Selbstmord am Telefon, ohne Marks von seiner Tat abzuhalten, ohne die Polizei zu rufen. In der Klage, die Marks' Mutter nach Angaben der Internetzeitschrift Wired angestrengt hat, handelte sie damit "in willkürlicher und heimtückischer Missachtung der Lebensgefahr für Patrick Marks". Der Junge wurde wegen Depressionen behandelt. Seine Mutter ist überzeugt: Er hätte die Krise überwunden.

(Foto: SZ v. 25.04.2003)

Zehn Tote gehen nach Angaben von Wired nachweislich auf das Konto des digitalen Gesprächskreises, mit 14 brüstet er sich selbst. Nicht nur die Zahlen, sondern auch Reaktionen wie jene in Kansas haben Suizid-Foren eine Reputation als tödliche Psychokabinette eingetragen. Und "Ash", wie Marks' Chat sich selbst nennt, ist unter allen der berüchtigste. Unter Werbelinks von Pharmafirmen führen die Besucher makaber sophistische Methoden-Diskussionen, in denen die Wirkung von Kohlenmonoxid gegenüber jener von Codein abgewogen wird und tauschen ballistische Tipps aus. Sie vermitteln Empfehlungen für Beerdigungen oder Abschiedsbriefe, und auf einer nahen Webseite findet man eine Formel, nach der sich jede Todesart auf ihr Verhältnis von "Wirksamkeit", "Dauer" und "Schmerz" untersuchen lässt: Zyanid liegt bei 97 : 1,8 : 51, 5, ein Stromschlag bei 65,5 : 2,4 : 72. "Das Urteil des Körpers gilt allemal so viel wie das des Geistes", hat Albert Camus geschrieben, "und der Körper scheut die Vernichtung." Wer sich in diesen digitalen Kreisen aufhält, ringt mit den Ansprüchen seines lebenshungrigen Körper, mit dem, was hier "Scheiß- Überlebensreflex" heißt. Manchmal monatelang.

Und doch, schwören die "Asher", habe ihre Obsession nichts mit Pathologie zu tun und schon gar nichts mit Voyeurismus, sondern einzig mit der freien Entscheidung eines Menschen, seinem Leben ein Ende zu setzen, wann immer ihm danach ist. Mehr noch: Suizidalität gilt ihnen nicht als letzte, sondern als einzige Reaktion auf eine unerträglich oberflächliche Welt. Im Vergleich zur schwärmerischen Todessehnsucht der Chatterton-Jünger, die nirgends solche Schönheit entdeckten wie im eigenen Tod, wirkt die selbst ernannte "Subkultur" der Asher eisig. In einem aber mögen sie sich ähneln: Darin, dass sie sich in Todesfantasien überbieten und so in labilen Gemütern jenen mörderischen Drang erst wecken, den sie später verhandeln. So zwingend ist dieser Sog, dass mancher ihm nur durch den virtuellen Selbstmord entkommt. Vor ein paar Monaten schlug "Jabberwocky Dirge" seinen Gesprächspartnern einen imaginierten Massenselbstmord vor: Alle sollten vom Hochhaus springen und so ein Erdbeben auslösen, das endlich die verstockten Mitmenschen zum Nachdenken brächte. Doch während einige sich über seinen schwarzen Humor amüsierten, verspotteten andere "Jabberwocky" als "Spinner" oder sogar als "Troll", als einen, der sich nicht traut. Da griff der Geschmähte zu einer Notlüge. Er ließ die Nachricht seines eigenen Todes verbreiten, und als die Sache aufflog, gestand er: "Ich musste eine Möglichkeit finden, um aufzuhören, in der Newsgroup zu lesen und dort zu schreiben".

"Ash" ist ein Zerrspiegel aller hochfliegenden Internet- Visionen von Freiheit und Autonomie, denn hier schlägt die Achtung des freien Willens in Gefühllosigkeit um und Selbstbestimmung in Destruktion. Das größte Risiko aber liegt in der Beschleunigung. Man mag über Cesare Paveses Satz, dass "keinem Menschen" je "ein guter Grund" fehle, sich zu töten, denken, was man will. Sicher ist, dass manchem dazu zum Glück die Mittel fehlten. Im Moment größter Not aber erhält der Verzagte im Netz mit fataler Schnelligkeit Informationen über Strangulierungen und Bezugsadressen für Gift, Gas oder Waffen. Aus diesem Grund forderte etwa der Vater des 17-jährigen Tim Piper aus dem britischen Chippenham jüngst das sofortige Verbot von Suizidforen. Sein Sohn hatte sich nach umfassender Information über die beste Methode, aus dem Leben zu scheiden, im Schrank seiner Mutter erhängt. "Suizid ist harte Arbeit" lasen die Angehörigen später auf einer der Seiten: "Sehr leicht kann man es versauen oder schlimme Fehler machen. Wie in vielen anderen Dingen erreicht man die besten Resultate durch umfassende Recherche und sorgfältige Vorbereitung."

Auch hiesige Psychiatrien kennen Patienten, die der Online-Service fast umgebracht hätte. Es sind Fälle, die einen wie Ulrich Hegerl, Sprecher des "Kompetenznetzes Depression, Suizidalität", wütend machen, weil sie fast Opfer einer "Naivität" geworden wären, die Selbstmord als Ausdruck individueller Freiheit feiert und sie nicht als Symptom einer schweren, aber oft heilbaren Krankheit erkennt. Der Münchner Wissenschaftler hat ein Depressionsforum eingerichtet, "kompetenznetz-depression.de", das von 1500 Nutzern am Tag besucht wird. Ein Facharzt betreut das Forum, Beiträge über Methoden werden gelöscht. Äußert jemand konkrete Suizidabsichten, wird ihm hier Hilfe angeboten, im Notfall ruft man die Polizei. "Wir schauen nicht tatenlos zu, wie einer sich das Leben nehmen will", sagt Hegerl.

In der Tat ist der digitale Raum für Verzweifelte nicht nur gefährlich, sondern auch hilfreich und wie geschaffen für Nothilfe in Zwangslagen. Es ist kein Wunder, dass die ersten digitalen Gesprächskreise über Selbstmord fast so alt sind wie das Netz selbst: Hier ist die Kommunikation kontrollierbar und Anonymität garantiert, hier lässt sich aussprechen, was andere schockieren würde. So stellen sich die Foren gern als Antwort auf das Tabu des Suizides dar, das die christlich-abendländische Gesellschaft seit den Selbstentleibungen der römischen Stoiker quält. Und selbst schärfste Kritiker geben zu, dass sich in diesen Schutzraum Menschen flüchten, die kein Arzt mehr erreicht und kein Freund, keine Selbsthilfegruppe und die Polizei sowieso erst, wenn alles vorbei ist. Niemand weiß, wie viele Selbstmorde die Foren schon verhindert haben, und sei es durch die Einsicht, dass auch das Netz kein Mittel für einen leichten Tod kennt.

Aber man weiß überhaupt sehr wenig über das Thema. Zehn bis fünfzehn Suizidforen gibt es in Deutschland, schätzt der Hamburger Psychologe Georg Fiedler, weltweit seien es eher weniger und keinesfalls tausend, wie gelegentlich behauptet. Längst nicht alle Angebote sind abstoßend, einige sehen sich nicht als Alternative, sondern als Einstieg in eine Behandlung. Für die Polizei jedenfalls ist das Netz kein ernst zu nehmender Tatort: Fünf Selbstmorde werden bislang in Deutschland mit Internetforen in Verbindung gebracht. Fünf von 11000 Suiziden pro Jahr bei fallender Tendenz. Im Vergleich zu Russen, Finnen oder Litauern sind die Deutschen ein geradezu lebenslustiges Volk - und zur am stärksten gefährdeten Gruppe zählen nicht gerade junge Computerfreaks.

Angesichts dieser Zahlen wirkt es übertrieben, wenn der Münchner Psychiater Thomas Bronisch vor einer "Epidemie" durch das tödliche Netz warnt: Der Tod einer Kultfigur, so das Szenario, könne den gefürchteten "Werther- Effekt" auslösen, tausendfach verstärkt durch die Reichweite der Kabel. Dabei ist dieses Risiko viel geringer als der Nachahmungseffekt, den Berichte über kultisch zelebrierte Selbstmorde auslösen können. Vielleicht auch Presseberichte wie dieser.

"Die Zeitungen sprechen oft von ,heimlichem Gram' oder von , unheilbarer Krankheit'", schrieb Camus über den Selbstmord: "Wichtig aber wäre es zu wissen, ob nicht am selben Tage ein Freund mit dem Verzweifelten in einem gleichgültigen Ton gesprochen hat: Das ist der Schuldige."

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