Schlingensiefs Bayreuther "Parsifal":Erlösung suchen wir doch alle

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Christoph Schlingensief überfordert Wagners "Parsifal" mit einem Bilder-Overkill im Hier und Jetzt. Pierre Boulez dirigiert die Partitur derweil in die Zukunft der Musik.

REINHARD J.BREMBECK

Kein Hase weit und breit. Nicht einmal ein Karnickel. Die Ankunft auf Bayreuths Bahnhof ist enttäuschend wie nie.

Und wenn gar nichts mehr geht oder einfällt - ein bisschen Urmutter macht noch immer was her. Was auch immer sie hermacht. Füllige Schlingensief-Einblendung bei der Bayreuther Premiere. (Foto: Foto: dpa)

Keine Performance, gar nichts. Die Kleinstadt wirkt wie ausgestorben. So, als seien die Bewohner aufs Land geflohen, weil sie den Showdown erwarteten, das Hamaggedon zwischen Wagnerianern und Schlingensief-Getreuen. Die Ruhe ist verdächtig. Eine erste Ernüchterung.

Die Ruhe hält im Festspielhaus noch an. Keiner, der sich in actu echauffieren will. Nach dem ersten Akt des "Parsifal" werden ein paar Bravoklatscher niedergezischelt, nach dem zweiten werden lautstark die eher matten Sänger gefeiert und am Ende entlädt sich der Volkszorn auf Schlingensief in kurzen Buhs, durchsetzt von Ovationen.

Das ist nicht mehr, als Regisseure sonst von Wagnerianern zu hören bekommen. Skandale lassen sich anders an.

Spätestens nun wird klar, dass sich die Menschheit von einer perfekt funktionierenden PR-Maschinerie hat irreführen lassen. Bayreuth war wochenlang Tagesgespräch. Doch jenseits von Skandal und Hype beginnt wieder trister Opernalltag, tritt wieder die ins Eck gescheuchte Ästhetik schüchtern auf und verlangt ihre alten Rechte zurück, insbesondere die Deutungshoheit in Inhaltsfragen. Doch das schafft nur neue Probleme. Denn dieser Abend ist ein weiterer Meilenstein beim überall praktizierten Abschied vom herkömmlichen Operntheater.

Indem Wolfgang Wagner, getrieben von der Sehnsucht nach neuen Regielösungen, den Aktionskünstler ins Festspielhaus ließ, hat er, Jahre nach dem Tod der Postmoderne, für deren Wiederauferstehung gesorgt. Denn die entscheidenden Kategorien dieses Abends sind weniger Durchdringung und Verständnis als Assoziation, Undeutlichkeit und ständige Veränderung.

In erster Linie ist die Aufführung ein Wunderwerk der szenischen Logistik und weniger das einer überzeugenden Personenführung.

Was kaum ins Gewicht fällt, weil mit einer vor Details nur so überquellenden Bilderflut gearbeitet wird, die beim einmaligen Sehen nicht einmal andeutungsweise erschlossen werden kann und den Zuschauer, nicht zuletzt wegen des andauernden Halbdunkels, zur Kapitulation zwingt.

Die Bilderflut aber ist nur möglich, weil - ein Novum für Bayreuth - eine Drehbühne installiert wurde und immerzu benutzt wird. Hier findet sich so ziemlich alles, was in einem Theaterfundus und auf den Sperrmüllsammelstellen der Welt zu haben ist.

Eine unbändige Materialsammellust und die kindliche Freude am Herzeigen dieser Funde bestimmt den Abend: Überfluss, nicht Erklärung ist Trumpf, und es ist unglaublich, was sich die grandiosen Bühnenbildner Daniel Angermayr und Thomas Goerge sowie die Bühnenbildnerin Tabea Braun ausgedacht haben.

Irgendwo auf fremdem Kontinent, im Grenz- und Niemandsland zur zivilisierten Welt haben die so abenteuerlich wie bunt gekleideten letzten Vertreter der Weltreligionen in einer WG zusammen gefunden, deren Vorbild die sechziger Jahre und Rainer Langhans sind.

Mit Metallzäunen und Stacheldraht schützt sich diese Gemeinde notdürftig gegen eine feindliche Welt. Man haust in aus Wohlstandsschrott gezimmerten Hütten und Zelten, in Wachturm und Palastruine - letztere vielleicht ein Hinweis auf den venezianischen Palazzo Vendramin, in dem Wagner wenige Monate nach der "Parsifal"-Uraufführung starb.

Absonderlichste Gestalten treiben sich hier im Zwielicht herum. Wiederholt schleppen zwei Muskelmänner eine Miniaturbundeslade über die Szene. Ein feistes, fast nacktes Weib taucht auf, Ursymbol aller Fruchtbarkeit.

Dann erzählt WG-Gründungsmitglied Gurnemanz, im weißen Zottelfell und mit rotem Rauschebart, aus der Frühgeschichte der Brüderschaft. Nachdrücklich, mit Tönen rund und saftig wie Knödel, macht das Robert Holl, aber letztlich mit nur wenig gestaltender Klangphantasie.

Das atmosphärische Dunkel auf der Bühne lässt mehr ahnen als erkennen, und der wird irre, der versucht, alle Folklorebezüge zu ordnen, die Versatzstücke aus den verschiedenen Religionen, oder die oft über die Bühnenbilder laufenden Filmprojektionen von Landschaften und Symbolen, von Hasen und Robben, von Ritualen oder Stammesfesten.

Die Ausstattung ist ein Paradies für Religionsforscher, Ethnologen und Soziologen. Plötzlich hat Parsifal nicht nur eine Lanze in der Hand, sondern auch einen Hirtenstab, offensichtlich aus den Beständen eines Klempners. Dieser Hirtenstab ist die heilige Lanze, mit der angeblich Christus malträtiert wurde.

Ein Reflex auf Schwerter zu Pflugscharen? Während man rätselt, warum das Zauberweib Kundry mit einem Stoffhasen geärgert wird, und was der Voodoo-Altar bedeuten mag, neben dem ein Platz freigelassen ist für den "Heiligen Hund", entgehen einem mindestens weitere einhundert Details - und vor allem die Musik.

Unüberseh- und -hörbar ist, dass Regisseur und Dirigent nicht zusammengearbeitet haben, sondern zwei sich ausschließende Konzepte konsequent realisieren.

Pierre Boulez ist einer traditionellen Werkästhetik verpflichtet, Schlingensief ist längst darüber hinaus. Boulez musikalisiert den Orchestersatz bis zum Äußersten, er dirigiert, als gäbe es daneben weder Theater noch Sänger.

Zurückhaltend entdeckt er, der bedeutendste lebende Komponist Frankreichs, die französische Tradition in diesem Stück. Der "Parsifal" ist ihm Zukunftsmusik: Debussys "Pelléas", Messiaens "Saint François d'Assise", sein eigener "Pli selon pli" - all diese epochalen Stücke haben hier ihre Wurzeln. So verfeinert Boulez und kehrt die in Fragmente verliebte, sich aus Bruchstücken addierende Form der Partitur heraus. Marschpassagen und die schlichten Choralphrasen aber unterspielt er, macht daraus geahnte Esoterik.

Diese durch die Festspielhausakustik ins Sublime gesteigerte einseitige Auslegung aber kann nicht bestehen vor der Bilderflut auf der Bühne, die aus dem aufrührerisch zerstörerischen Impetus von Happening und Performance ihre trashige Sogkraft bezieht: Szene fressen Klänge auf. Auch die Sänger können sich kaum durchsetzen gegen die Bilder, weil kein überragender Singdarsteller auf der Bühne steht. Am besten behauptet sich Alexander Marco-Buhrmester als leidender Oberguru der Aussteiger. Ganz in Weiß taumelt dieser Amfortas übers Spielfeld, klagt eindringlich über sein Versagen als Heilsbringer, genauso wie er zuletzt in einer tief traurigen Szene Abschied von seinem Vater Titurel (Kwangchul Youn) nimmt, den er durch seinen auf die eigene Erlösung programmierten Egoismus dem Tod geweiht hat.

Erlösung suchen hier alle: Wagner selber, der die Chromatik noch über die im "Tristan" hinaustreibt und damit geradezu die Emanzipation des Einzeltons und der Dissonanz erreicht. Diese Entwicklung macht ihm Angst, er will von ihr erlöst werden, und das gelingt in pseudoreligiösen Musiken wie dem Schlusschor, der sich harmonisch nicht von Schubert Materialstand unterscheidet und in seiner durch Terzverwandtschaften begründeten Spannungslosigkeit ideal als definitive Erlösungshymne dient.

Auch Kundry wird erlöst von ihrem schizophrenen Dasein als Heilige und Hure, und zwar ausnahmsweise im dramaturgisch richtigen Moment - dann, wenn sie getauft wird, in der Schlussapotheose. Hier wird in Kundry die Frau als Sklavin in allen Gesellschaften gezeigt, doch Michelle de Young lässt den Furor vermissen, auch die Sinnlichkeit und Verzweiflung, die diese in sich zerrissene Gestalt in ihre Todessehnsucht treiben. Parsifal als Dressman

Erlösung sucht auch der Parsifal des Endrik Wottrich von der Torheit. Ein blonder Dressman, dessen weißer Umhang ihn sofort als legitimen Erben des Amfortas ausweist. Ein unbekümmerter Haudrauf, der im schaurigen Gralsritual von allen WG-Bewohnern mit blutigen Händen betatscht wird, in seiner Dumpfheit aber den Kern dieser Initiation nicht begreift. Aber auch ein Sänger, der den Anforderungen der Partie nicht wirklich gewachsen ist, im Liebesduett mit Kundry so matt wie seine Partnerin bleibt und in den visionären Momenten seine Lebensaufgabe nur unter großen Mühen ersingen kann - weil ihm die strahlende Höhe fehlt, die Kraft und die Konzentration des Tons in seinem Zentrum.

Dieser Erlöser ist schwer erlösungsbedürftig, also liegt er zuletzt tot darnieder. Doch Schlingensief, der Katholik, lässt es nicht bei solcher Endgültigkeit bewenden. Er blendet noch einmal zwei verwesende Hasen in Großaufnahme ein und zaubert dann die Auferstehung in einem kitschig schönen Schlussbild: Wie hinter Milchglas schreitet Parsifal als Schattenriss auf eine Tür in der Ferne zu, durch die das hellste Licht einer neuen Menschheitsmorgenröte dringt.

Von solchem Kitsch und unfreiwillig komischen Momenten ist der ganze Abend nicht frei. Doch sind dies Elemente, die nur Ästheten, aber nicht einen wahrhaft Religiösen wie Schlingensief stören können. Also wird den Lichtgestalten Amfortas und Parsifal der schwarze Teufel Klingsor entgegengestellt, ein böser Schamane, ein Griot negativer Mächte, den John Wegner allerdings etwas zu wenig gefährlich ausstellt.

Indem Schlingensief ein synkretistisch diesseitiges Bühnenweihfestspiel treibt, das heute praktizierten Religionen in vielen Ländern jenseits der ersten Welt entspricht, erlöst er Wagners wohl genialste Partitur sowohl von pseudochristlicher Übertünchung wie auch von allen aufklärerischen Versuchen, diesem Stück jede religiöse Ebene auszutreiben. Doch dieser Erlösung im Bereich der Bilder muss man, wie in jeder Religion, kritiklos und rein emotional folgen.

Wer verstehen will, hat schnell verloren. Wie Richard Wagner zimmert sich auch Christoph Schlingensief eine Privatreligion zusammen, die nicht durch logisch diskursive Ableitung aus Bestehendem, sondern durch frei schweifende Assoziation entsteht. So aber kommt es in Bayreuth nicht zu einer Auseinandersetzung mit dem "Parsifal", sondern zu einer Fortschreibung - was derzeit eine der spannendsten Formen ist, sich solch einem Stück jenseits der historischen Rekonstruktion auf der Bühne zu nähern.

© SZ v. 27.07.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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