Schlingensief am Amazonas:Piranha-Suppe zur Potenzsteigerung

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Papageien, Faultiere und Waldgeister am Amazonas dürften sich wundern, wozu deutsche Kulturvermittlung im Ausland fähig ist: Christoph Schlingensief führte Wagners "Fliegenden Holländer" in Manaus auf.

Peter Laudenbach

"Gehen Sie in den Dschungel, essen Sie eine unserer Suppen, die die Zunge betäubt", sagt der Kultursekretär des brasilianischen Bundesstaates Amazonas. "Tun Sie es heute, denn morgen wird hier eine große Prozession die Musik Richard Wagners auf der Straße spielen und wir werden alle verrückt werden." Die Aussicht auf ein kollektives Wagner-Delirium scheint den kultivierten Herren zu freuen.

Wagner in Brasilien, da freut sich Christoph Schlingensief. (Foto: Foto: dpa)

Das ist nicht das einzige Anzeichen leichten Wahnsinns, das man in Manaus vor der merkwürdigsten Opernpremiere des Jahres an diesem Sonntag beobachten kann. Christoph Schlingensief inszeniert in einer Millionenstadt mitten im brasilianischen Regenwald, drei Jahre nach seinem Opern-Debüt mit "Parsifal" in Bayreuth den "Fliegenden Holländer" - wieder Wagner und wieder an einem mit Legenden aufgeladenen Ort.

Der gesamte "Ring" zum ersten Mal überhaupt in Brasilien

Das Opernhaus in Manaus ist ein prächtiger Kunsttempel mit schön gemustertem Edelholzparkett, das man nur mit Filzpantoffeln betreten darf, marmornen Säulen, geblasenen Kronleuchtern aus Italien und erlesenen Kacheln aus Frankreich. Der 1896 in einer kleinen, damals dank Kautschuk ungemein reichen Stadt errichtete Bau ist ein einziger Aberwitz, eine Art Sieg der Kunstliebe und Selbstüberhebung über die Wirklichkeit, also das ideale Gehäuse für die Kunst Richard Wagners. Vollends zum verklärten Wunderwerk wurde dieses Opernhaus im Dschungel vor einigen Jahrzehnten durch Werner Herzogs Film "Fitzcarraldo" - eine Feier des narzisstischen Kunstwollens.

Seit zwölf Jahren finden im Teatro Amazonas wieder Opern-Aufführungen statt, unter anderem wurde hier der gesamte "Ring" gezeigt, zum ersten Mal überhaupt in Brasilien. Heute ist Manaus vermutlich die einzige Millionenstadt der Welt ohne Zug- und Straßenanschluss. Wer hierher will, muss einen Amazonasdampfer nehmen oder ins Flugzeug steigen. Am Hafen kann man Piranha-Suppe essen, die angeblich aphrodisierende Wirkung besitzt, vergammelte Dampfer liegen am sich träge dahinwälzenden Fluss, am anderen Ufer beginnt die Wildnis, einige Millionen Quadratkilometer Dschungel. "Man hat das Gefühl, diese Stadt wird es nicht ewig geben", sagt Schlingensief, der Gedanke gefällt ihm sichtlich. "Es ist eine Frage der Zeit, bis der Dschungel alles zuwuchert. In der Nähe gibt es eine verlassene Kleinstadt. Irgendwann kamen die Ameisen. Die Bewohner haben aufgegeben und sind weggezogen."

Deshalb inszeniert Schlingensief in Manaus vor allem den brasilianischen Titel des "Fliegenden Holländer." Hier heißt die Oper: "O Navio Fantasma", das Geisterschiff. Schlingensief erzählt von den rosaroten Delphinen im Amazonas und davon, dass die Indios daran glauben, dass sich die Tiere nachts einen Anzug anziehen, auf Landgang ausschwärmen und junge Frauen schwängern. Auch davon, dass die Regieassistentin von einem dieser Delphine fast in den Hintern gebissen wurde. Auch haben die Besuche des Regisseurs bei schwarzen Messen und Geisteraustreibungen obskurer animistischer Sekten ihre Spuren in der Inszenierung hinterlassen - genau so wie die Indios zur Illustration zivilisationsmüder Fantasien herhalten müssen.

Ein Bild von großartiger Verstrahltheit

Auf der Suche nach den Geistern des Dschungels ist Schlingensief mit dem Orchester des Opernhauses, der Amazonas Filarmonica, auf einem weißen Amazonas-Dampfer den Rio Negro entlang gefahren. Irgendwo auf einer kleinen Lichtung im Regenwald hat das Orchester dann die "Holländer"-Ouvertüre gespielt. Die Papageien und Faultiere, vermutlich auch die Waldgeister dürften sich nicht schlecht darüber gewundert haben, wozu deutsche Kulturvermittlung im Ausland fähig ist. Auf dem Film, den Schlingensief von dem Konzert im Regenwald gedreht hat, tragen die Musiker weiße Umhänge als wären sie im Dienst am Gesamtkunstwerk selbst zu Geisterwesen mutiert.

Assistenten, sozusagen Messdiener der Wagner-Beschwörung und Dschungel-Beschallung, rennen mit Fackeln durchs Bild und werfen Feuerwerkskörper. Das offenbar durch nichts zu erschütternde Orchester spielt ungerührt weiter. Es ist ein Bild von großartiger Verstrahltheit, das seltsamerweise völlig selbstverständlich wirkt - als wäre diese Musik genau dafür gemacht, im Urwald von einem Orchester von Geisterbeschwörern gespielt zu werden. Vielleicht wird dieser Film noch in die "Holländer"-Inszenierung eingebaut, ein Traumbild mehr in einer an Querverweisen auf Pasolinis "120 Tage von Sodom" über Kippenberger bis zu Man Ray, an Selbstzitaten, Privatmythologien und Bilderrätseln nicht armen Assoziations- und Referenz-Misch-Maschine.

Kurz vor der Premiere ist die Inszenierung alles andere als fertig. Das liegt nicht nur daran, dass die Statisten bei Hochwasser nicht zu den Proben kommen können und dass die Regenzeit gerade beginnt, dass Fremdenführer während der Proben den Zuschauerraum des berühmten Opernhauses ungerührt Touristengruppen zeigen und dass nur Abends geprobt werden kann, weil die Chorsänger tagsüber anderen Berufen nachgehen.

Im zweiten Teil: Die menschliche Seele ist rosa

Dass die Inszenierung nicht fertig wird, ist irgendwie logisch. Schließlich geht es Schlingensief darum "die Verwandlung" zu zeigen - und die ist, jedenfalls im Schlingensief-Universum, tendenziell endlos und niemals abgeschlossen. Es ist eine Verwandlung vom Leben zum Tod und umgekehrt.

Verfaulten in seinem Bayreuther "Parsifal" auf der Leinwand Kaninchen im Zeitraffer, kann man diesmal während der Ouvertüre Larven in monströser Großaufnahme dabei zusehen, wie sie langsam schlüpfen. Es ist ein Schlüpfen nicht zum Leben, sondern zum Tod, kein Wunder bei dieser so todes- wie erlösungssüchtigen Oper. Immer wieder taucht auf der Drehbühne ein auf einem altertümlichen Kanapee aufgebahrter Toter im grauen Anzug auf. Wer will, kann in ihm einen Widergänger von Schlingensiefs Vater sehen, der vor kurzem gestorben ist.

Die menschliche Seele ist rosa

Eher nebenbei werden junge Mädchen geköpft, am Ende muss sogar Senta, die vergeblich Liebende, daran glauben. Ihr Vater ersticht sie, er ist hier kein wackerer Kapitän, sondern eine Mischung aus Mädchenhändler und Sektenführer mit Bischofsmütze. Senta wird, wie in einem Echo des ersten Bildes, im Tod zu einer Larve, die in Form eines aufgeblähten rosa Kleidchens wie ihre unsterbliche Seele in den Bühnenhimmel schwebt.

Womit zumindest die Sophisten-Frage nach der Farbe der menschlichen Seele beantwortet wäre: Rosa. Die Frage dagegen, ob das alles Quatsch ist, die Verwandlung der Oper in eine Resteverwertungs-Installation oder ein neuer Weg zum alten Gesamtkunstwerk, oder auch alles zusammen, bleibt naturgemäß offen, weil Geschmackssache. Dass sich die mehr oder weniger zu Bildelementen und Soundlieferanten geschrumpften Sänger des brasilianisch, japanisch, nordamerikanisch gemischten Ensembles in das Abliefern von Nummern retten, ist angesichts der minimalen Probenzeit erstens kein Wunder und zweitens bei Schlingensiefs Bilderfluss ohne Ufer vermutlich auch die beste Überlebensstrategie.

Nicht das kleinste Wunder an diesem wundersamen Unternehmen ist es, mit welcher Gelassenheit die Brasilianer auf Schlingensiefs Bildersturm reagieren. Die Schlingensief-Geisterbahn scheint hier wesentlich weniger befremdlich zu wirken als in Bayreuth. Luiz Fernando Malheiro, der Dirigent des "Holländer" und künstlerische Leiter des Festival Amazonas de Opera, der Schlingensief in den Regenwald eingeladen hat, hat kein Problem mit schlüpfenden Larven, Sex- und Gewaltszenen aus Pasolinis "Sodom"-Film und nicht ganz librettogemäß geköpften Jungfrauen. "In Brasilien gibt es keine tradierte, festgeschriebene Auffassung davon, wie eine Wagner-Oper aussehen muss. Deshalb ist das Publikum sehr offen", sagt der entspannte Dirigent.

Zustande gekommen ist die seltsame Produktion eher durch Zufall. Bei einer Veranstaltung des Goethe-Instituts in São Paulo lernten sich der Regisseur aus Deutschland und der Dirigent vom Amazonas kennen - der Musiker war vom Bayreuth-Regisseur fasziniert und Schlingensief dachte beim Stichwort ,Manaus' sofort an "Fitzcarraldo", an Klaus Kinski im weißen Leinenanzug, an den sich selbst feiernden Künstlerirrsinn und ein über den Berg gezogenes Schiff. Dass Schlingensief nicht unbedingt typisch für Bayreuth ist, dass "Fitzcarraldo" über weite Strecken in Peru gedreht wurde und eher ein Trash-Kracher als ein guter Film ist - geschenkt.

So wird Schlingensiefs "Holländer", unterstützt vom Goethe-Institut und der Bundeskulturstiftung, zur Fortsetzung zweier Kunst-Mythen - als würden sich verschrobene Legenden von selbst fortpflanzen. Aber vielleicht passt Schlingensiefs Kunst des Montierens und Sampelns, in der afrikanische Tänze, Filme der historischen Avantgarde und Wagner-Opern verschmelzen, auch ohne solches Hintergrundrauschen ganz gut nach Brasilien, einem Land, in dem sich Katholizismus problemlos mit dem Glauben an Geister verbinden lässt.

Gesamtkunstwerkertum

Schlingensief besiedelt den Planeten Wagner systematisch mit brasilianischer Volkskunst. Hundert Trommler und zwei Dutzend Tänzer aus den Sambaschulen der Slums, die hier Comunidade heißen, machen bei der Aufführung im Opernhaus mit, außerdem ein rührendes altes Ehepaar aus den Armenvierteln, die wie ein melancholischer Kommentar zu den Liebesschwüren von Senta und dem Holländer wirken. "Ich will hier nicht beweisen, dass ich so gut deutsch sprechen kann", sagt Schlingensief.

Nicht um einen Wagner-Export geht es, eher um das Gegenteil: Das Wagner-Universum soll eine Brasilien-Infusion bekommen. Was entsteht ist ein Hybrid, in dem sich Medien, Kulturen und Mythen in einem Taumel vermischen, bis Filmbilder die Szene überschwemmen, die Matrosen des Holländers zu Nonnen werden und sich die Sturmfluten der Nordsee mit dem Strudeln und Stromschnellen des Amazonas vereinen - von beiden Gewässern und ihren Gefahren können Fitzcarraldo und der fliegende Holländer ein Lied, beziehungsweise eine Arie singen.

Die wirklichen Wilden kommen in dieser Inszenierung übrigens nicht aus dem Urwald, sondern aus Deutschland. Es sind Karin Witt und Klaus Beyer. Frau Witt ist eine reizende, sehr kleine und schon etwas ältere Dame, die mit aberwitzigen Kostümen und Perücken eine Art Puppe spielt und etwa genau so groß ist, wie die kleinen Indio-Kinder, die mit ihr über die Bühne tänzeln. Komischerweise sieht Frau Witt dabei aus, als würde sie zum gleichen Stamm gehören.

Klaus Beyer, ein Mensch, der es in Punkto Privatmythen, Kunstwillen und Gesamtkunstwerkertum jederzeit mit Richard Wagner aufnehmen kann, schleppt, angetan mit einer schwarzen Damenperücke und Bondage-Oberteil, ein großes Kreuz über die Bühne, er wird gekreuzigt und im Käfig gehalten, aber er gibt nicht auf. Eigentlich mag er die Beatles wesentlich lieber als Wagner, er hat drei ihrer Alben verfilmt, Lied für Lied, auf Super Acht, in seiner Küche und ohne einen Cent Geld.

Auf die Frage, wie es ihm mit Wagner und mit Brasilien ginge, antwortet er höflich und ehrlich: Das mit dem Theater ist in Brasilien auch nicht anders als in Berlin, man kommt halt zur Probe. Und Wagner war am Anfang ja noch ganz schön, "aber wenn man das jeden Tag hört, wird es schon ein bisschen anstrengend."

© SZ vom 21.04.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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