Schauspiel:Schrecklich schön

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Der russische Regisseur Timofei Kuljabin bringt Warlam Schalamows Erzählungen "Am Kältepol" ans Cuvilliéstheater

Von Egbert Tholl

Warlam Schalamow war 18 Jahre lang Gefangener des Gulag-Systems. Sein Verbrechen: eine eigene Meinung. Das war in der Sowjetunion der Stalinzeit lebensgefährlich. Im Nordosten der Sowjetunion, in der eisig kalten, lebensfeindlichen Kolyma-Region, arbeitete er in Straflagern, Bergwerken, ließ sich zum Arzthelfer in der Krankenstation ausbilden und fing an zu schreiben. In den Fünfzigerjahren, nach Stalins Tod, kam Schalamow frei, rehabilitiert wurde er dennoch erst lange nach seinem Tod im Jahr 1982. Zwar konnte er in den Siebzigerjahren Teile seiner "Erzählungen aus Kolyma" nach Deutschland schmuggeln, wo sie auch übersetzt und gedruckt wurden, in London auf Russisch erschienen. Aber Schreiben war Zeit seines Lebens mit Gefahr verbunden. In Russland wurde sein Werk erst 1989 verlegt, in Deutschland begann man 2007 mit der Herausgabe einer Werkausgabe.

Allein schon deshalb bringt nun Timofei Kuljabin einige dieser Erzählungen auf die Bühne des Münchner Cuvilliéstheaters. Er will, dass sie bekannt werden, er will die außerordentliche Qualität dieser Erzählungen zeigen. "Am Kältepol - Erzählungen aus dem Gulag" hat an diesem Samstag Premiere. Kuljabin, geboren 1984 und mit russischen Theaterpreisen überhäuft, leitet in Nowosibirsk ein Theater und wurde im Westen bekannt, als er 2016 mit seiner Inszenierung von Tschechows "Drei Schwestern" zu den Wiener Festwochen eingeladen wurde. Die Aufführung verwendete nur Gebärdensprache, Kuljabin wollte eine neue Sicht auf das fast totgespielte Stück ermöglichen.

Im Publikum saß auch Sebastian Huber, Chefdramaturg am Residenztheater, war begeistert und lud den Jungstar aus Russland ein, in München seine erste Sprechtheaterinszenierung in Deutschland zu machen. Oper hat er schon: Im vergangenen Jahr inszenierte Kuljabin "Rigoletto" in Wuppertal. Im deutschsprachigen Raum wird er weiter arbeiten, etwa Ende dieses Jahres am Schauspielhaus Zürich Ibsens "Nora" herausbringen. Er ist froh, keinen Russenstempel zu tragen und sich seine Stücke aussuchen zu können. Auch in der Oper - für die russische habe er ohnehin kein besonderes Faible.

Das erste Mal im Westen auf ihn aufmerksam wurde man auch wegen einer Oper. An der Staatsoper in Nowosibirsk hatte er Ende 2014 Wagners "Tannhäuser" herausgebracht, die Fachzeitschrift Muzikalnoje obozrenie kürte die Arbeit 2015 zur Inszenierung des Jahres, sie wurde gefeiert als Meilenstein der russischen Wagner-Rezeption. Nur der örtliche Erzbischof sah das anders und zeigte Kuljabin und den Intendanten des Opernhauses an, weil er seinen Glauben verletzt glaubte. Es kam zum Prozess, aber auch zu vielen Solidaritätsbekundungen. Doch letztlich wurde die Inszenierung abgesetzt und der Intendant entlassen. Heute erzählt Kuljabin, der Bischof konnte gar nicht persönlich beleidigt gewesen sein wegen der Inszenierung, er habe sie nämlich nie gesehen. Im heutigen Russland brauche es keine direkte Einflussnahme der Behörden auf die Kunst; das erledigten die Kirche und selbsternannte Moralwächter. Manche lassen sich instrumentalisieren, manche handeln aus eigenem, verworrenen Antrieb.

Und doch will Kuljabin auch weiterhin in Nowosibirsk arbeiten, er habe einen Vertrag und Pläne für die nächsten Jahre. Und: Die "Erzählungen aus dem Gulag" könnte er in Russland genau so zeigen wie in München. Es spielen nur Frauen. "Wir können uns nicht anmaßen, das darzustellen. Wir brauchen ein kompliziertes Filtersystem." Also eine Distanz, irgendwie ähnlich wie bei seinen "Drei Schwestern". Die Geschichten sind extrem unterschiedlich in ihrem Duktus, in ihrem Rhythmus, ihrer Struktur. Das will Kuljabin beibehalten, deshalb lässt er sie lesen. Und mittels Video übertragen. Man muss zuhören. "Seine unglaubliche Stärke als Autor ist, dass er dich nicht erschrecken will, es aber wirklich schrecklich ist, was er erzählt." Anders als bei Solschenizyn, der für Kuljabins Geschmack viel zu viele Worte brauche, entsteht in Schalamows Erzählungen extreme Wirkung gerade durch Kargheit, Lakonie. Man liest - und im nächsten Moment ist man völlig fassungslos.

Am Kältepol , Premiere am Samstag, 3. März, 19.30 Uhr, Cuvilliéstheater, Residenzstraße 1

© SZ vom 03.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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