Schauspiel:Nie allein

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Louis (Gregor Knop, rechts) wird den Geist seines gestorbenen Liebhabers (Mehmet Sözer) nicht los. (Foto: Gabriela Neeb)

"Das ferne Land" am Volkstheater

Von Christiane Lutz, München

Es gibt einen Kalenderspruch, der lautet: "Das Schöne an einer Familie: Man ist nie allein. Das Schlechte an einer Familie: Man ist nie allein." Eigentlich geht es genau darum in "Das ferne Land", einem Stück von Jean-Luc Lagarce, nun von Nicolas Charaux am Volkstheater inszeniert. Denn obwohl sich Louis entschied, ohne seine Familie in der Großstadt ein freies Leben zu führen, so bleibt sie doch, vermehrt sich, verhält sich zu ihm, ist gekränkt von seiner Abwesenheit. Familie kann man nicht abstellen. Das hat Louis unterschätzt, als er zurückkehrt aufs Land, um seiner Familie von seinem bevorstehenden Tod zu erzählen und "alles in Ordnung" zu bringen.

"In Ordnung" ist dann aber überhaupt nichts: Die Mutter (schön schräg: Marie Goyette) überspielt mit bunten Outfits ihre Enttäuschung, Schwester Suzanne (naiv drängend: Luise Deborah Daberkow) schafft den Absprung von zuhause nicht, Bruder Antoine hat ganz offensichtlich ein Wut-Problem (schön passiv-aggressiv bis aggressiv gespielt von Silas Breiding). Louis wird von Menschen aus seiner gewählten Familie begleitet, von einem alten Freund, vom Geist eines verstorbenen Geliebten. Es gibt kein altes Leben ohne das neue - und umgekehrt. Wie wahr.

Nicolas Charaux arrangiert das Ganze aber als nüchterne, zweieinhalbstündige Familienaufstellung. Auf einer Bühne mit Abstellraumflair (Pia Greven) sitzen die Figuren auf Klappstühlen, auf den nächsten Einsatz wartend. Sie sind nicht nur Handelnde, sondern immer auch Zuschauer im eigenen Leben. Wie Louis (gespielt von Gregor Knop, großäugig, fragend), der fast teilnahmslos beobachtet, was sein Auftauchen mit der Familie macht. Mit dürren Sätzen umkreist sich die Familie, spricht kaum zu- , mehr übereinander. Besonders Antoine nimmt Louis sein Verschwinden und die Rückkehr übel. An diesem Bruderkonflikt entzünden sich ein paar intensive Spielmomente, die der lange Abend ganz dringend braucht, um nicht auf ewig gleicher Temperatur dahinzuschaukeln. Aber alle Kniffe von Regisseur Charaux - Videoeinsatz, Witz, Musikeinlagen - reichen nicht aus, den bleiernen Text lebendig werden zu lassen. Zu karg die Sprache, zu viele Monologe zum Publikum, zu wenig Spielmöglichkeiten. Warum genau Lagarce in Frankreich so viel gespielt wird, ist nach dieser Inszenierung nicht unbedingt nachvollziehbarer.

Auch die zu Anfang ganz spannend arrangierte Gegenüberstellung von biologischer und sozialer Familie löst sich im Lauf des Stücks komplett auf. Am Ende reist Louis unverrichteter Dinge wieder ab. Was vom Abend bleibt, ist die Erkenntnis, dass absolute Selbstbestimmung eine Illusion ist. Und die, dass der Mensch erst im Verhältnis zu anderen Menschen lebendig wird.

© SZ vom 03.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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