Schau:"Nun sagen Sie aufrichtig, wie Sie das Bild finden"

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In einer farblich stimmigen, theatral gesetzten Ausstellung schickt die Graphische Sammlung München zeitgenössische Künstler auf Spurensuche nach dem verschollenen Gemälde "Der Turm der blauen Pferde" von Franz Marc

Von Evelyn Vogel

Der gierige Göring hatte es. So viel steht fest. Nachdem das Gemälde "Der Turm der blauen Pferde" von Franz Marc 1937 in der Ausstellung "Entartete Kunst" im Münchner Hofgarten gezeigt worden war, riss es sich Hermann Göring, ranghoher NS-Politiker und späterer Reichsfeldmarschall, unter den Nagel und hängte es - entartet hin oder her - in seine Privatsammlung. Dann wurde es in den Wochen nach Kriegsende 1945 angeblich noch zweimal gesehen. Die Aussagen gehen auseinander, wo und wann genau. Aber dass es in Berlin war und dass es in Gebieten war, in denen die russische Armee das Sagen hatte, das scheint festzustehen.

Danach verliert sich die Spur. Nach Russland? Man weiß es nicht. Vor einigen Jahren kam die Vermutung auf, es lagere in einem Schweizer Bank-Safe. Beweise? Fehlanzeige. Trotz seiner mittlerweile 70 Jahre währenden Abwesenheit genießt das verschollene Gemälde "Der Turm der blauen Pferde" einen fast ebenso großen ikonografischen Status wie Marcs "Blaues Pferd", das im Münchner Lenbachhaus hängt.

Nun haben sich die Graphische Sammlung München und das Haus am Waldsee in Berlin zusammengetan, um die Geschichte des Turms der blauen Pferde auf eine aktuelle Art und Weise fortzuschreiben. Eingeladen haben sie 20 zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler, die die Geschichte des Bildes in einer Doppelausstellung reflektieren. Mit Hilfe von Gemälden, Zeichnungen, Installationen und Fotografien wird diese Spurensuche parallel gestaltet. In Berlin, wo das Gemälde verschwand, hat man die Suche von hinten aufgezogen.

Anders in München, hier verfolgt man die Spuren von den Anfängen des Bildes her. So hängt inmitten der Ausstellung in der Pinakothek der Moderne an der zentralen Stirnwand die Postkarte mit dem leicht variierten, aber ebenso farbig intensiven Vier-Pferde-Motiv, die Franz Marc dereinst Else Lasker-Schüler schickte. Die kleine Postkarte ist im Besitz der Graphischen Sammlung. Sie ist das Abbild, das dem großformatigen verschollenen Gemälde am ähnlichsten ist. Es gibt noch einfache Vorzeichnungen aus Marcs Skizzenbücher. Eine hängt im Franz Marc Museum in Kochel. Doch die Postkarte ist der Schatz aus dem eigenen Bestand. Für ihren Direktor Michael Hering ist sie "das Salz in der Wunde", das er zum Anlass nimmt, erneut die Grenzen der Graphischen Sammlung und deren Ausstellungsmöglichkeiten auszuloten.

Getan wird das in einer theatral gesetzten Inszenierung. Im Zugang zu den Ausstellungsräumen, dem sogenannten Vitrinengang, wird im typischen Marc-Blau - wie eine Blau-Pause aus den frühen Zeiten der Xerokopie - die Geschichte des Bildes nacherzählt. Angefangen damit, dass Marc es im Winter 1913 seinem Malerfreund Kandinsky auf dem eiskalten Dachbodenatelier, wo er in Pelzmantel und Pelzmütze daran arbeitete, zum ersten Mal zeigte mit den Worten: "Nun sagen Sie aufrichtig, wie Sie das Bild finden." Weiter geht es in die Dreißiger- und Vierzigerjahre, nach Berlin, nach München und wieder nach Berlin. Und weiter zu vermeintlichen Wiederentdeckungen bis in die Jetztzeit.

Wo es um die eigentliche zeitgenössische Auseinandersetzung geht, hat man die Stirnwände in den Farben des Blauen Reiters gehalten: gelb, rot, blau. Die Farben der Emotionalität rahmen die Arbeiten ein, die sich auch eher emotional dem Hauptwerk nähern. Da ist Slawomir Elsners großformatige, abstrakte Farbstiftzeichnung mit dem Marcschen Original-Titel; da ist Tatjana Dolls realistische Lackarbeit "RIP - Lost and Found" - gleichsam ein Turm-Wiedergänger; da sind Dieter Blums "Blaue Pferde", eine Fotografie, die nicht von ungefähr an Cowboy-Romantik und den Geschmack von Freiheit und Abenteuer erinnert. Der in Düsseldorf lebende Künstler hat das Motiv einst für einen Tabakkonzern fotografiert. Jetzt ging er hin und färbte die Pferde, Teile der Kleidung des Cowboys, ja die ganze Landschaft in Blau-Tönen ein und machte daraus ein fast surreales Bilderlebnis in Blau.

Ganz anders die Seitenwände, die weiß blieben und den konzeptuell-analytischen Teil der Auseinandersetzung begleiten. Viktoria Binschtok nahm das Merchandising-Gewese um Marc & Co. zum Anlass, im Internet zu recherchieren und Objekte mit dem Turm-Motiv fotografisch zu reinszenieren. Das reicht von Puzzles über Schlüsselanhänger und Bierdeckel bis hin zu iPhone-Hüllen. Jana Gunstheimer hat in ihrer Übermalung mit begleitendem Koordinatensystem dem "Bild ohne Betrachter" nachgespürt. Almut Hilf verarbeitet in ihrem abstrakten Raumcollagen-Triptychon "Ohne Titel (in den Augen des Teichhuhns)" Versatzstücke der historischen Ausstellungsorte des Bildes: Münchener Neue Secession, Berliner Kronprinzen-Palais und Münchner Hofgartenarkaden. Dierk Schmidt hat in seiner Acrylarbeit eine Art Psycho-Abklatsch gezogen. Ein Testbild, das Marcs Turm spiegeln soll und dadurch den Betrachter alsbald zur Testperson macht: Ich seh' etwas, was du nicht siehst, das hat die Farbe - Blau?

Eine derartige Raum-Inszenierung und Spuren-Suche wäre nicht vollständig ohne den Boden - der Spekulationen oder der Tatsachen? Den realen bedeckt eine einzige riesige Holz-Schnitt-Arbeit: "Spuren des Krieges" von Thomas Kilpper. Er legt seiner Spurensuche nicht den Turm als singuläres Ereignis zu Grunde, sondern Werk und Zeit Franz Marcs. Die Kriegsbegeisterung seiner Generation, die vielfach mit wehenden Fahnen in die Schlachten des Ersten Weltkriegs zog, setzt er in Verbindung mit der aktuellen Situation. Kilpper ließ einen Leopard-2-Panzer der Bundeswehr auf vorbereiteten Tafeln seine Runden drehen, verstärkte die Spuren und legte den gesamten Ausstellungsraum mit den Tafeln aus, in die er zudem Auszüge aus dem Kriegstagebuch Marcs einschnitt. Man geht auf Kilpper und blickt auf Marcs Gedanken zum Kriege. Die zeitgenössischen Künstler haben versucht, auf ihre Weise Salz in die Wunde zu streuen. Die Ikone "Der Turm der blauen Pferde" von Franz Marc bleibt weiterhin vermisst.

Vermisst. Der Turm der blauen Pferde von Franz Marc. Zeitgenössische Künstler auf der Suche nach einem verschollenen Meisterwerk. Graphische Sammlung in der Pinakothek der Moderne, Barer Str. 40, bis 5. Juni, Di-So 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr

© SZ vom 09.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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