Sarte zum 100-sten:Ein Prösterchen auf den Existenzialismus!

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Vor 100 Jahren wurde Jean-Paul Sartre geboren. Sein Denken trifft heute auf eine Generation, die nichts mit ihm anfangen kann. Von Heinz Bude

Jean-Paul Sartres Gesicht gehört wie das von Albert Einstein, Andy Warhol oder das von Marilyn Monroe zur Physiognomie des 20. Jahrhunderts. Wir kennen ihn als Philosophen der Existentialismus, als Gefährten von Simone de Beauvoir und als Besucher von Andreas Baader in Stammheim. Im Jahrhundert der Intellektuellen hat er nicht nur seinen Platz, sondern definiert eine Periode. Spricht dieser Denker der Freiheit aus der Erfahrung der Verstrickung nach wie vor zu uns?

Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir bei einem Drink in Paris im Juni 1977. Heute wird Sartre erinnert als ein Philosoph, politischer Aktivist, der den falschen Ideologien anhing und als Denker eines rigorosen Individualismus´. (Foto: Foto: AP)

So nah uns seine Erscheinung ist, so fern ist uns sein Denken. Sartre repräsentiert eine Denkwelt aus einer fernen Zeit. Der magische Totalitätsbegriff, als gäbe es das Ganze unserer Epoche, der emphatische Autorbegriff, als besitze alles Geschriebene einen Sinn, der verzweifelte Freiheitsbegriff, als sei der Fluch der Freiheit die Quelle der menschlichen Größe, der pompöse Begriff des Menschen, als sei der Mensch ein Absolutes - das klingt heute alles befremdlich und geschichtlich. Sartre gehört nicht mehr zu unserer Gegenwart. Seine Stimme ist eine des Krieges, sein Denken stammt aus der Welt des europäischen Weltbürgerkrieges, der 1989 beendet worden ist. Es ist eine Zeit vor unserer Zeit, aus der seine Idee des Äußersten, seine Vorstellung einer Direktheit des Lebens, sein Vertrauen auf eine ursprüngliche Evidenz des Volkes verständlich wird.

Sartre selbst hat sich entsprechend erklärt: Im und durch den Krieg entdeckt der ursprünglich Ich-Einsame sein soziales Wesen und die politische Dimension seiner Verantwortung. In der Gefangenschaft im Stammlager von Trier bis zum März 1941 erlebt er die Solidarität mit den Gefangenen und liest zum ersten Mal Heidegger. Hier sind die Wurzeln von Sartres Theorie des Engagements zu sehen.

Sartres Auffassung des Engagements hat bekanntlich zwei Seiten: Auf der einen Seite der mit marxistischen Kategorien operierende erbarmungslose soziale Kontextualismus. Der Intellektuelle ist in seiner Epoche situiert, schreibt er im Oktober 1945 anlässlich der Vorstellung von "Les Temps Modernes", jedes seiner Worte findet darin einen Widerhall. Auch sein Schweigen. Auf der anderen Seite der rücksichtslose existenzielle Voluntarismus, der das Bewusstsein der Situiertheit als Bedingung der Möglichkeit einer Wahrheit auffasst. Der Intellektuelle kann sich nicht davonstehlen, ihm bleibt gar nichts anderes übrig, als sich seiner Epoche ganz zu verschreiben. Er lebt aus der absoluten Wahl, die ihn in seine Epoche wirft. Das Engagement verweist den Einzelnen aufs Ganze.

So schön erhebend sich das anhört, wir können es nicht mehr glauben. Wir glauben weder an das Ganze noch an den Menschen. Wir haben gelernt, dass das Ganze durch die Mechanismen der funktionalen Differenzierung verschieden ist, und haben begriffen, dass der Wille sich in seinen Umwegen über das Unbewusste immer selbst verpasst. Wir sind kontaminiert durch ein Anderes, das uns immer versetzt, verspätet und verteilt sein lässt. Der Präsentismus, Holismus und Vitalismus von Sartres Modell des engagierten Intellektuellen geht an uns vorbei. Obwohl es, das müssen wir zugeben, immer wieder sehr wahre Sätze bei Sartre gibt - wie den, dass der Autor sich merkwürdigerweise oft eher für einen Studenten halte, der von einem Stipendium lebt, als für einen Arbeitenden, der für seine Leistung bezahlt wird.

Aber wer macht Sartre zum Anderen, wenn man behauptet, dass Sartre nicht mehr zu uns spricht? "Wir" - das sind die Intellektuellen von heute, die durch die Schule der nachholenden Skepsis gegangen sind. Die am Beginn ihrer intellektuellen Sozialisation mehr und schneller Foucault, Deleuze und Derrida als Sartre gelesen haben, die in Deutschland Luhmann mehr als Habermas Glauben geschenkt haben. Für die schon irgendwann in den achtziger Jahren der Faden gerissen war.

Wir werden zu einem "Wir" aufgrund der stillen Überzeugung, dass der auktoriale Autor eine Illusion, der evidente Sinn eine überzogene Hypothese und das sich selbst gewisse Ich ein trügerisches Zeichen darstellt. Die Generation von Intellektuellen, die nach dieser eigentümlichen Revolte der sechziger Jahre kam, hat das tragische Pathos von Größe und Scheitern durch die ironische Leichtigkeit ersetzt. Fasziniert vom symbiotischen Effekt der Macht, die jedes Dagegensein in eine Form des Dabeiseins verkehrt, schwor man der großen Geste der Gesellschaftsveränderung ab und setzte auf eine Vielzahl kleiner Einsichten ins Getriebe der sozialen Systeme.

Wir misstrauen dem stellvertretenden Sprechen für die "Unterdrückten und Beleidigten" wie der Resignation am gesellschaftlichen Ganzen. Wir haben erkannt, dass die andere Seite des Engagements eine kleinliche Melancholie der Selbstbewahrung ist. Der Intellektuelle kann allenfalls unter Berufung auf das, was er erforscht oder registriert hat, ein spezielles Wissen unter die Leute bringen, das die Dinge anders erscheinen lässt und den Zwängen der Sache einen Spielraum des Möglichen eröffnet. Engagement erscheint als narzisstisch, Kritik als dubios und Revolte als naiv.

Es ist mit Händen zu greifen, dass diese Haltung sich der Abgrenzung von einem Stil des Alarmismus verdankt und insofern eine Position im intellektuellen Generationenkampf zum Ausdruck bringt. Gegenüber der Gesellschaftskritik und ihrer Gegenwärtigkeit wird eine Haltung der zurückhaltenden Analyse funktionaler Äquivalente und der formalen Bestimmung von Differenzen ins Spiel gebracht. Man stellte um von Herrschaftskritik auf Interpretationspolitik.

Aber auch dieser Bruch ist inzwischen Geschichte geworden. Wer interessiert sich noch für die Abgrenzungsmanöver einer postachtundsechziger Generation von Intellektuellen? Wo ist der eigene Punkt, so wird jetzt gefragt, im Blick auf eine Gesellschaft, die mit Umbrüchen ganz anderer Art zu tun hat? Was haben die geschmeidigen Intellektuellen zu den verhärteten Verhältnissen unserer Jetztzeit zu sagen? Hier könnte Sartre zu uns sprechen. Was könnte heute ein Modell für Engagement sein? Welche Vorstellung des Sozialen ist zu verteidigen? Wofür lohnt sich der Einsatz?

Es gibt Sätze bei Sartre, die den grundlegenden Mangel der gesteigerten Reflexivität, des Übermaßes an Ironie, der Unfähigkeit zum Antagonismus und der Bereitschaft, sich zu ergeben, bewusst machen. So heißt es wiederum im Oktober 1945: "Von unserer Zeit wollen wir nichts versäumen: vielleicht gibt es schönere Zeiten, aber dies ist unsere Zeit." Was dieser Satz zum Ausdruck bringt, ist die Möglichkeit der Wegdenkbarkeit einer ganzen Generation von Intellektuellen aufgrund des Versäumens der eigenen Epoche.

Natürlich gibt es nicht die Zeit der Gegenwart als homogene Ganzheit, nicht das Jetzt in der Klarheit seiner Herausforderungen, nicht die Gesellschaft mit ihren unmissverständlichen Verteilungen zwischen oben und unten, draußen und drinnen, hinten und vorn. Aber es gibt die Situation der Involviertheit, der man sich nicht durch die Beobachtung von Beobachtungen entziehen kann.

Wir können nicht wie Sartre absolut sein wollen, indem wir in unserer Epochen kämpfen, weil wir sie leidenschaftlich lieben und bereit sind, ganz und gar mit ihr unterzugehen. Ein solcher Flirt mit dem Äußersten ist uns fremd, die damit implizierte Versuchung der Apokalypse erscheint uns reichlich verwegen. Aber wir haben die Möglichkeit, Definitionen zu wagen, Energien zu entbinden und Ausgangspunkte zu setzen.

Dafür existiert bei Sartre ein leitender Begriff: Der Begriff der Verantwortung und der damit verbundene des Versprechens. Für Sartre resultiert die Verantwortung aus einem Akt der Überschreitung, die die geschlossene Front der Umstände, Ereignisse und Vorstellungen zu Fall bringt. Es ist ein Moment der Unwissenheit, der eine Haltung der Moral ermöglicht - verstanden als eine Art des Tuns und eine Form des Lebens.

Diese moralische Verantwortung, könnte man mit einem Gegendenker von Sartre, mit Jacques Derrida sagen, beinhaltet ein Versprechen ohne Verheißung. Nicht das Versprechen eines finalen Zustandes von Geschichte und Gesellschaft, sondern eines, das wir uns selbst geben, an das wir uns selbst halten, das wir selbst sind. Erst dieses Versprechen macht uns zu einem "Wir", das sich nicht aus der Denunziation eines Anderen, sondern dem Einstehen für etwas Anderes ergibt. Das Versprechen zur Verantwortung hält sich nicht an das Kalendermodell der abgelaufenen Geschichte, sondern ermöglicht einen Intensitätsbegriff von kommender Geschichtlichkeit.

Für den Intellektuellen, der sich dem Anspruch eines verantwortlichen Versprechens unterstellt, werden die Dinge eigentümlich ernst und erscheinen die Verhältnisse alles anderes als festgefügt. Wer seine Zeit nicht versäumen will, muss eine Behauptung wagen, sich verwundbar machen und mitspielen. Mit Sartre gesprochen: "Wir können uns ohne Schwierigkeit vorstellen, dass ein Mensch, obwohl er von seiner Situation vollkommen bedingt ist, ein Zentrum irreduzibler Nichtdeterminiertheit sein kann."

Der Autor lehrt Soziologie in Kassel.

© SZ v. 21.06.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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