Russland und Fotografie:Eigentlich lügen sie nicht

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Lenin im Rollstuhl mit toten Mausaugen, Solschenizyn im Gulag, Breschnew auf Grillpartie: Ein neuer Bildband zeigt das 20. Jahrhundert Russlands, fotografiert von der Agentur Tass.

Sonja Zekri

Natürlich lügen die Bilder, das heißt, eigentlich lügen sie gar nicht. Sie zeigen nur eine bessere Wirklichkeit, ein Ideal-Russland, das immer wieder mal mit den Händen zu greifen war und dann doch versank in Hunger und Gewalt. Die Nachrichtenagentur Tass war 1904 auf Befehl des letzten Zaren als Sankt Petersburger Telegrafenagentur gegründet worden, zog 1918 mit den Bolschewiken nach Moskau, nannte sich ab 1925 Tass und ab 1992 Itar-Tass, und ihre Fotografien dienten ein Jahrhundert lang als ein Spiegel, der nur die schmeichelhaftesten Bilder zeigte; dessen Motive, Dramaturgie und Licht nie Zufall waren.

Die erste Frau, die im Weltall spazieren ging: Swetlana Sawizkaja, fotografiert von der Agentur Tass. (Foto: Foto: Tass/ Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag)

Jahrhundertaufnahmen sind darunter: Lenin im Rollstuhl mit toten Mausaugen; Solschenizyn im Gulag; historische Jubelschüsse von jauchzenden Turnern und Myriaden sonnenbadender Leningrader vor der Peter-und-Paul-Festung; die Schinderei am usbekischen Fergana-Kanal - ein Fest.

Anderes ist gut gemeint, aber unfreiwillig komisch wie jene Leningrader Ballerina, die sich 1955 zu Akkordeon-Klängen auf einem Acker vor kasachischen Bauern zur Arabeske erhebt und dabei aber so gar nicht kulturerzieherisch wirkt, sondern bemitleidenswert deplatziert. Und die Aufnahme von Breschnews Grillpartie mit dem jugoslawischen Präsidenten Tito war natürlich auch eher als Demonstration rustikaler Männlichkeit gedacht und nicht als Genrebild gerontokratischer Lodenjoppen-Spießer.

Aber wirklich aufregend wird der Band immer dann, wenn sich doch ein bisschen unkontrollierte Wirklichkeit Bahn bricht - wenn 1905 die zaristische Armee gegen protestierende Arbeiter anreitet, wenn sich in den Zwanzigern nackte Kinder mit fußballgroßen Hungerbäuchen und Streichholzbeinen durchs Dorf schleppen - Opfer der Kollektivierung.

Itar-Tass ist bis heute die Fotografin des Kreml geblieben, aber sie hat das Deutungsmonopol nicht mehr; andere Fotografen zeigen ein weniger jubelndes, weniger steriles Russland. Das Tass-Bild aus der Barentsee vom August 2000 rührt aber trotzdem: Es zeigt die Besatzung des Atom-U-Bootes Kursk, 118 Mann, vollzählig angetreten, bevor das Boot in See stach und nicht wieder auftauchte.

PETER RADETSKY (Hrsg.): Russland und die Sowjetunion. Ein Jahrhundert in Fotografien der Nachrichtenagentur Tass. Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2007. 288 Seiten, 49,90 Euro.

© SZ vom 30.11.2007/ihe - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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