Russland diskutiert über "Fracht 200":Das stinkende Imperium

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"Der Film ist drastisch, aber so waren die Zeiten", sagt Regisseur Alexej Balabanow über seinen brutal antisowjetischen Film "Fracht 200". Russland ist sich uneinig: Ausgekotzter Schund oder heilsamer Schock?

Sonja Zekri

Russland befindet sich in neosowjetischer Apathie, heißt es. Ein ganzes Volk gebe sich nostalgischer Verklärung und trügerischen Mythen hin: vom guten Stalin, von einer heilen Vergangenheit, von einem großrussischen Wiedererwachen. Und das Kino weiß es auch nicht besser.

In Russland ist mancherorts die Tendenz zu verspüren, Stalinismus und die Sowjetunion zu verklären. Einen Kontrapunkt dazu setzt Balabanows Film "Fracht 200". (Foto: Foto: dpa)

Alexej Balabanow beispielsweise, der mondgesichtige Regisseur von "Brat" (Bruder) und "Brat II" gilt geradezu als Riefenstahl russischer Großkotzigkeit. Die Geschichte des jungen Tschetschenien-Veteranen Danila (Sergej Bodrow jr.), der zum Killer wird, überwältigte 1997 durch seine unschuldige Grausamkeit, seinen Rassismus und ein präzedenzlos hässliches Sankt Petersburg. Ein ganzes Land fand Trost in der somnambulen Amoralität dieser Vergeltung und im anti-westlichen Reflex des zweiten Teils, als Danila in Chicago aufräumt.

Die "Brat"-Filme machten Sergej Bodrow jr. zum Star. Als er 2002 unter einer Lawine verunglückte, trauerte Russland um ihn wie um einen Helden. Balabanow aber galt fortan als Wegbereiter eines obskuren Nationalismus. "Brat I + II" wurden die ersten Blockbuster des postsowjetischen Kinos und überstrahlten rasch Balabanows frühere Werke, Autorenfilme zu Kafka ("Zamok/Das Schloss") oder zu Beckett ("Shastliwyje dnji/Glückliche Tage").

Und nun hat ausgerechnet Alexej Balabanow einen Film gedreht, der das Publikum spaltet, der die Sowjetunion, vielleicht sogar ganz Russland als Kloake zeigt: "Grus 200", Fracht 200.

Es ist die zweite Hälfte des Jahres 1984, die letzten Tage des Afghanistan-Krieges. Das sowjetische Imperium ist verfault, und Gorbatschow noch eine Randfigur, als in der heruntergekommenen Industriestadt Leninsk ein Mädchen verschwindet. Anjelika (Agnija Kusnezowa), die Tochter des lokalen Parteisekretärs, hat sich von ihrem Freund überreden lassen, nach einem Discobesuch Wodkanachschub zu holen bei einem Ex-Häftling auf dem Land.

In der schmierigen Hütte lungert der unheimliche Polizist Schurow (Alexej Polujan) herum, und als alle im Suff am Boden liegen, verschleppt er sie in seine Wohnung in einem Plattenbau. Er kettet sie ans Bett, lässt sie von einem Penner vergewaltigen und schaut zu, während sich nebenan seine debile Mutter besinnungslos säuft und aus dem Fernseher Sowjetschlager dröhnen. "Ich bin die Tochter des Parteisekretärs", wimmert Anjelika, aber die Wunderformel hat alle Kraft verloren.

"Fracht 200" ist der militärische Code für einen Gefallenentransport aus Afghanistan, und spätestens als Anjelikas Bräutigam im Zinksarg angeliefert wird, Schurow dem Toten zwei Orden an die Brust klemmt und ihn zu Anjelika aufs Bett wirft, wenn Insekten um die Leiche schwirren und Schurows Mutter sich sabbernd beschwert : "Wir haben Fliegen!", schlägt der Film um ins Halluzinatorische, wird zum Retro-Horrortrip in eine Sowjetunion, die nicht sauber und geordnet war, sondern stinkend, sadistisch und krank. Balabanows Leninsk ist ein hoch symbolischer Ort, eine nationale Metapher wie Tschechows "Krankensaal Nr. 6".

Er lobe sich ja nie, aber dieser Film sei vielleicht sein bester, hat Balabanow der Zeitschrift Time Out Moskwa gesagt. Zehn Jahre habe er die Idee mit sich herumgetragen, wollte einen Film über die Erfahrungen des Jahres 1984 machen, als er durch das sterbende rote Reich gefahren war. "Ich war jung, kam gerade aus der Armee, aber gerade deshalb hatte ich das Gefühl, dass alles zerfällt. Diesen Moment wollte ich auf die Leinwand bringen. Ja, der Film ist drastisch, aber so waren die Zeiten."

Zwei Darsteller hatten Balabanow abgesagt, nachdem sie das Drehbuch gelesen hatten. Beim Filmfestival "Kinotawr" in Sotschi bekam "Grus 200" nur einen Trostpreis. Kinobesitzer wollten den Film anfangs nicht zeigen, Mitte Juni ist er doch russlandweit gestartet, und bis heute kommt Russland nicht zur Ruhe. Tausende erhitzen sich auf der Webseite gruz200.ru, beschimpfen den Film als "ausgekotzten Schund", streiten, ob die Brunnen damals wirklich so schmutzig waren, das Land wirklich so erbärmlich, und was sich seither geändert hat.

Balabanows Film sei ein "kompromissloses Urteil über die Sowjetunion", schrieb die Zeitung Nowoje Wremja, "aber der Film konstatiert zugleich, dass deren Agonie bis heute anhält." Eben, sagen viele. Balabanow habe nicht nur die Sowjetunion in den Dreck gezogen, sondern auch die humanistischen Werte der russischen Kultur verraten. Und dass der Film auf einer wahren Begebenheit beruht, macht es nur noch schlimmer.

Mit welch sicherem Instinkt Balabanow auch diesmal mitten hinein ins russische Unbehagen gedreht hat, zeigt eine Podiumsdiskussion der einst kritischen, heute aber längst gezähmten, regierungstreuen Zeitung Iswestija. Nachdem der Filmkritiker Daniil Dondurej Balabanow als "ungeheuren Kenner der russischen Mentalität" gelobt hat, fügte er hinzu: "Sehen Sie, kein Mensch weiß, wie man sich gegenüber der Sowjetmacht verhalten soll."

Präsident Putin werde verehrt, "aber er hat gesagt, dass der Zerfall der Sowjetunion eine geopolitische Katastrophe war. In den vergangenen sieben Jahren hat die Nation eigentlich nur eines gelernt, nämlich die frühen Neunziger zu hassen. Die betrunkene Mutter vor dem Fernseher - das ist das Bild unserer geliebten Heimat." Woraufhin der Iswestija-Chefredakteur Wladimir Mamontow mit einen Satz antwortet, der allen Zweifel, allen verletzten Stolz enthält, der Russland heute quält: Wie, bitteschön, habe dann dieses betrunkene Land Gagarin hervorgebracht?

Heute bringt Russland keinen Gagarin hervor, aber einen Balabanow. Und wer weiß, was die größere Leistung ist.

© SZ vom 24.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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