Roms Untergang:Immer Ärger mit der Unterschicht

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Wie ging Rom unter? Wahrscheinlich wurde die Stadt von Barbaren überfallen, doch das ist nur eine von vielen Spekulationen über das Ende des Imperiums.

Gustav Seibt

Imperien haben viel Zeit. Gemessen an den Umstürzen der europäischen Geschichte seit zweihundert Jahren, ging das Römische Reich wie in Zeitlupe unter, mit feierlicher Gemessenheit. Am Ende des dritten Jahrhunderts nach Christus wurde die Stadt Rom vom Kaiser Aurelian mit einer gigantischen Wehrmauer aus Ziegeln und Türmen umgeben.

So stellt sich Joseph-Noel Silvestre 1890 den Einfall der Barbaren vor. (Foto: Foto: Katalog)

Damit wappnete man sich gegen eine Gefahr, die zuletzt fast fünfhundert Jahre zuvor, in den Kriegen Hannibals, aktuell gewesen war: den Einmarsch eines äußeren Feindes in Italien. Das ist so, als würden wir in die Zeit Luthers zurückblicken, um eine heutige Gefahr abzuschätzen. Und nach dem Bau der römischen Mauer dauerte es noch einmal 130 Jahre, bevor der Ernstfall eintrat: Im Jahr 410 wurde Rom von den Goten und ihrem König Alarich eingenommen.

Der erste Kollektivprozess

Doch nach diesem schockierenden Ereignis dauerte es noch einmal zwei Generationen, bevor der letzte Kaiser Westroms, ein Junge namens Romulus Augustulus, abgesetzt wurde und sein Entthroner, der Vandale Odoaker, dessen Insignien nach Konstantinopel sandte. 476, das ist in den Geschichtsbüchern die fett gedruckte Zahl, die das Ende Roms, mehr als tausend Jahre nach seiner sagenhaften Gründung, bezeichnet.

Mit dieser Zahl verbindet sich eine These. Es waren die Germanenvölker, die, selbst angetrieben von den aus Asien herandrängenden Hunnen, die Grenzen des Imperiums überschwemmten, um dann die Zentrale zu stürzen. Die Zukunft gehörte nicht mehr einem Reich, sondern Völkern: Goten, Vandalen, Franken, Sachsen. Doch die Barbarenthese, vor allem dem 19. Jahrhundert teuer, ist nur eine unter vielen, die den Untergang Roms erklären sollen. Der Althistoriker Alexander Demandt hat 210 solcher Gründe aufgelistet, die im Lauf der Jahrhunderte vorgebracht wurden.

Das liegt auch daran, dass der Untergang Roms größer ist als die Taten und Unterlassungen einzelner. Es ist der erste Kollektivprozess, der sich im Licht der Geschichte des Westens abspielte. Mit Rom verschwand nicht nur ein Herrschaftssystem, sondern eine ganze Zivilisation. Wasserleitungen wurden unterbrochen, Straßen verloren sich in neuen Wildnissen, Stadtzentren zerbröckelten, Sprachen verwandelten sich, Götter wurden fremd, Bibliotheken versanken.

Tableaus von Angst und Untergang

Konnten wilde Stämme mit ihren paar tausend Kriegern all das bewirken? Musste Rom nicht schon zuvor in seinem Innern mürbe geworden sein? Das Christentum wurde zu einem weiteren Angeklagten, vor allem bei dem Historiker Edward Gibbon; im 20. Jahrhundert war es dann, unter dem Eindruck der Oktoberrevolution, die staatswirtschaftliche Enteignung des mittelmeerischen Stadtbürgertums, die dem Reich seine Stärke geraubt haben sollte - so verkündete es der exilierte Russe Michail Rostovtzeff.

Unterdes begannen ganz neue Disziplinen zu untersuchen, was bald auch anders genannt wurde: "Übergang von der Antike zum Mittelalter". Archäologie, Landeskunde, Sprachwissenschaft, Wirtschafts- und Sozialgeschichte verfolgten den Prozess an tausend Beispielen: Wie lange hielten die Handelsverbindungen? Wer konnte wann überhaupt noch Latein? Gab es einen Austausch bei den Grundbesitzerklassen? Wie gestalteten sich Landwirtschaft und Gütertausch? Aus dem blutigen Völkerwanderungsdrama wurde ein zäher Strukturwandel.

Franzosen und Italiener sprachen dabei gern von "Barbareninvasionen", die Deutschen, die sich als Nachfolger der Goten und Vandalen fühlten, lieber von "Völkerwanderung". Angreifer und Angegriffene lebten so in der Wissenschaft wieder auf. Und nicht nur dort: Schaurige Historiengemälde, packende Romane - wie Felix Dahns "Ein Kampf um Rom" - entwarfen düstere Tableaus von Angst und Untergang.

Es ist keine Nebensache, dass diese Gemälde vor allem des späten 19. Jahrhunderts nun für die seit Menschengedenken ambitionierteste, umfangreichste Ausstellung zum Ende des Römischen Reiches wieder aus dem Fundus geholt wurden und mit ihrer Farbigkeit die Lichter setzen über einer verschwenderischen, aber eher monochromen Fülle von archäologischen Zeugnissen, Büsten, Kultbildern, Kunsthandwerk aus Gold, Glas und Edelsteinen. Die Ausstellung "Roma ed i Barbari" im Palazzo Grassi in Venedig, die im August in die römische Garnisonsstadt Bonn kommen wird, belebt die Barbarenthese aufs energischste wieder. Das Ende Roms erscheint hier als Folge eines Zusammenpralls der Kulturen, und zwar, wie der Begriff der Barbaren es nahelegt, ungleichwertiger Kulturen.

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Dieser Begriff erhielt seine größte Evidenz immer in der Skulptur: Aus dem raffiniert pathetischen Naturalismus der kaiserzeitlichen Plastik wurde eine statuarisch-stilisierte, großäugig-strenge Kunst, die nicht mehr Individuen, sondern Typen zeigte. Im Kunsthandwerk zog sich die figurative, mythologisch orientierte Erzählkunst zurück zugunsten geometrischer Schmuckformen mit teuren Metallen und bunten Steinen. Inschriftenzeilen gerieten schwankend, die Reliefs verloren ihre Tiefe. Bronzeplastiken wurden klumpenhaft, schwer.

Es fehlte schlicht an Geld

Die Zeugnisse dieses Wandels kommen aus allen Teilen der Peripherie Roms, Gallien, Britannien, Alpen, Pannonien. Eine unendlich wertvolle Goldbüste des Kaisers Mark Aurel kontrastiert mit germanischen Idolen, deren Augen wie Rhomben geformt sind. Getriebene Silberschalen mit eleganten Ilias-Szenen erinnern an eine mittelmeerische Klassik, während goldene Schnallen und Sicherheitsnadeln suggerieren, dass es den Barbaren vor allem auf den Materialwert ankam. Und daneben hängt dann ein französischer Historienschinken von 1880, der den römischen Feldherrn Germanicus vor der Schädelstätte der Varusschlacht im Teutoburger Wald zeigt.

Nun wird die Barbarenthese soeben von der Geschichtswissenschaft erneuert. Die britischen Historiker Peter Heather und David Ward-Perkins haben sie in suggestiven Gesamtdarstellungen auf den modernen Stand gebracht. Und der sieht doch etwas anders aus als die Dramatisierung, die diese Ausstellung vorstellt. Warum verzichteten die Römer auf die Eroberung Germaniens bis zur Elbe? In Venedig sagt man: Weil die Barbaren die Legionen stoppten.

Peter Heather sagt: Weil die Eingliederung einer wirtschaftlich zurückgebliebenen, nicht einmal stabil besiedelten Wald- und Moorwildnis zu kostspielig geworden wäre. Man begnügte sich mit einem imperialen Vorgelände. Laut Heather war es eine Konstellation von Ursachen, die Rom im 5. Jahrhundert fallen ließ: Die Hunnen drängten an die Grenzen des Westreichs, während im selben Moment die Vandalen in Nordafrika das Imperium von Getreidelieferungen und Steuerzuflüssen abschnitten: Es fehlte im entscheidenden Moment schlicht am Geld.

Ganz sterben Imperien nie

Die Ausstellung endet erst bei den Wikingern des 10. Jahrhunderts und widmet sogar Karl dem Großen, der sich wieder römischer Kaiser nannte, einen Seitenblick. Die "Barbaren" erscheinen mal als gefährliche Feinde - in Panik vor ihnen vergruben die Provinzialrömer ihre Schätze im Boden, die den Archäologen heute so teuer sind -, mal erscheint Rom als assimilatorische, "multikulturelle" Macht, voller interessanter Kulte. Da gab es Mithras, aber auch Christus.

Aber wie hing das zusammen? Wie ging es zu, dass von der verlassenen römischen Zentrale ein christlicher Bischof auf einmal bis nach Irland und in die germanischen Wälder agieren konnte? All dies wird in dieser Ausstellung etwas undurchschaubar, weil sie den dritten Spieler nicht recht aufbaut, das Christentum. Es setzte sich im Römischen Reich im selben Moment durch, in dem es von außen berannt wurde.

Das ist zunächst eine Koinzidenz. Aber jede römische Katastrophe provozierte auch ein christliches Buch, das die Ereignisse für die Zukunft deutete. Warum konnte Rom bei den Barbaren weiterleben? Gewiss auch durch einige Kulturtechniken, die es weitergab; aber vor allem durch ein Geschichtsdenken, das mit der Abfolge mehrerer Reiche zurechtkam. Dieses Geschichtsdenken aber besaßen die Römer gerade nicht, sehr wohl aber die mit wechselnden Großreichen erfahrenen Juden in ihrem Alten Testament. Indem die Barbaren sich in dieses Geschichtsdenken einfügen ließen, konnten sie auch zu Erben Roms werden. Ohne Kirchenväter kein Karolingerreich, kein Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation.

Die Archäologie, die im Palazzo Grassi dominiert, stellt nur einen wichtigen Teilaspekt des riesigen Geschehens dar. Aber nicht nur Statuen, Geschirr und Schmuck änderten sich. Aus Schriftrollen wurden Bücher, die Historie Roms wurde als Weltgeschichte seit der Schöpfung gedacht - all das ist ebenso wichtig wie das beeindruckend vorgeführte Ende des römischen Stils in den Künsten. Auf die Barbaren könnte man sich vielleicht beschränken, wenn es nur ums vierte und fünfte Jahrhundert ginge. Wer aber die tausend Jahre zwischen Augustus und den Karolingern in den Blick nimmt, der muss mehr zeigen als Bodenfunde. Die Erregung, die von dem Thema immer wieder ausgeht und die auch diese wichtige Ausstellung befeuert, zeigt aber: Ganz sterben Imperien nie.

Roma ed i Barbari. La nascita di un nuovo mondo. Bis zum 20. Juni 2008 im Palazzo Grassi, Venedig (www.palazzograssi.it). Ab 22. August in der Bundeskunsthalle in Bonn. Katalog 48 Euro.

© SZ vom 1.2.2008/kur - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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