Prozess um "Tannöd"-Roman:Geraubte Geschichte

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Verstoßen Romane, die historische Sachbücher als Quelle verwenden, gegen das Urheberrecht? Jetzt wies ein Gericht die Plagiatsvorwürfe gegen den Bestseller "Tannöd" zurück.

Andreas Zielcke

Düstere Verbrechen im Inneren der Familie oder des Dorfes und die hierdurch freigesetzten Dämonen, die keinen im Umkreis in Ruhe lassen - sie liefern seit der Antike Stoff für literarische Phantasien. In der Moderne sind es nicht mehr mythologische Gewalttaten, oft auch nicht erfundene, sondern tatsächlich geschehene Morde, die zu literarischer Dramatisierung einladen. Goethes Gretchentragödie im "Faust", Droste-Hülshoffs "Judenbuche" oder Truman Capotes "Kaltblütig" gehören in diese Tradition.

Andreas Maria Schenkel muss sich um ihren Roman "Tannöd" keine Sorgen machen: Das Gericht wies die Plagiatsklage zurück. (Foto: Foto: dpa)

Doch in dem Moment, in dem Dichter einen realen Totschlag aufgreifen, treten sie in Konkurrenz zu allen, die sich in ihrem Metier professionell mit der Aufklärung desselben "Falles" beschäftigen, mit Reportern und Strafverfolgern. Der eine Fall zerfällt in zwei Perspektiven, deren Verträglichkeit höchst unwahrscheinlich ist. Dennoch profitiert natürlich die stets nachgeordnete literarische Phantasie von dem verpflichtenden Realismus der Professionellen. Nicht selten schöpft sie den von den Profis erarbeiteten Realitätsgehalt extensiv ab.

Mindert das aber die genuine Leistung des Schriftstellers, schmälert es seine Urheberschaft? Professionelle, zumal wenn sie als Sachbuchautoren den Fall aufwendig recherchiert haben, bejahen diese Frage gern heftig. So auch in dem Konflikt, der diesen Mittwoch vor dem Landgericht München I verhandelt wurde und dem die Klage eines Sachbuchautors gegen den Erfolgsroman "Tannöd" der Schriftstellerin Andreas Maria Schenkel zugrundeliegt. Sachbuch und Roman widmen sich demselben Fall, einem sechsfachen Mord, der sich 1922 auf einem bayerischen Einödhof ereignet hat.

Der juristische Streit, auch wenn er im Ergebnis eindeutig zugunsten der Schriftstellerin zu lösen ist, dürfte eh schon verbreitete Sorgen von Dichtern und Verlegern weiter verstärken, Sorgen, die daraus folgen, dass immer mehr Dritte gegen literarische Werke mit Rechtsmitteln vorgehen. Auch in dem Münchner Verfahren klagt der Sachbuchautor darauf, den weiteren Vertrieb des Bestsellers "Tannöd" einzustellen und ihm obendrein Schadensersatz zu zahlen. Doch allzu große Sorgen sollte sich die Belletristik wegen solcher Interventionsversuche nicht machen.

Oben auf der Gestaltungshöhe

Im Unterschied zu den Fällen wie Maxim Billers "Esra" oder Alban Nicolai Herbsts "Meere", wo es um die Verletzung des Persönlichkeitsrechts geht, wird gegen "Tannöd" genauso wie vor zwei Jahren gegen Dan Browns "Da Vinci Code" der Vorwurf des Plagiats erhoben. Der Kläger sieht seine kreative Vorleistung in zwei Sachbüchern, die den historischen Einödmord schildern, durch den Roman "Tannöd" ausgebeutet, ohne ihn daran zu beteiligen. Die Romanautorin mache sich der Verletzung seines Urheberrechts schuldig.

Diese Variante des Plagiatsvorwurfs aber ist ungewöhnlich. Sie reiht sich nicht ein in die unendliche Geschichte des geistigen Diebstahls, der seit je gegenüber wildernden Poeten erhoben wurde (und den viele von ihnen wie Thomas Mann oder Bertolt Brecht dichter- und sündenstolz geradezu für sich reklamierten). Denn hier bedient sich kein Dichter aus dem Werk eines anderen Dichters, hier bedient sich eine Romanautorin aus der Vorleistung eines professionellen Berichterstatters. Und damit stoßen die beiden inkompatiblen Sichtweisen, die sachliche und die poetische, aufeinander.

Im Prinzip, und darauf war keine bisherige Gesellschaft so angewiesen, wie es die heutige Informationsgesellschaft ist, im Prinzip ist die rechtliche Differenz zwischen den beiden Herangehensweisen einfach genug. Das Urheberrecht schützt nicht empirische Tatsachen, und es schützt auch nicht die neutrale Beschreibung solcher Tatsachen. Für Kriminalfälle bedeutet dies, kein Polizeibericht, keine Dokumentation kann beanspruchen, geistiges und damit exklusives Eigentum zu sein. Sie sind "gemeinfrei". Das Urheberrecht schützt ausschließlich, wolkig wie die Definition auch immer sein mag, "Werke", die eine "persönliche Schöpfung", einen "individuellen geistigen Gehalt" und eine "gewisse Gestaltungshöhe" aufweisen.

Individuelle schöpferische Dimension

Jede romanhafte Verarbeitung eines Kriminalfalles wird darum alles daran setzen, sich vom bloßen Bericht abzusetzen und auf eine "gewisse Gestaltungshöhe" zu begeben, um so den echten Mord in eine Fiktion, den realen Mörder in eine Kunstfigur zu verwandeln. Umgekehrt wird ein kriminalistischer Profi seinen Stolz darein setzen, jeder "persönlichen Schöpfung" des Falles unverdächtig zu bleiben und keinen individuellen Gehalt zu den Tatsachen hinzufügen.

Nicht zufällig beteuert der Sachbuchautor in dem Vorwort zu dem Einöd-Mordfall, er habe sich "selbst in Details streng an die mir als Zeugenaussagen, Protokollen und sonstigen Hinweisen zusammengetragenen Fakten gehalten; selbst das Wetter wurde nach Unterlagen des Deutschen Wetterdienstes geschildert." Authentischer kann man nicht dokumentieren, dass man keinerlei Urheberrecht an dem ausgebreiteten Stoff beansprucht - weil genau darin die Glaubhaftigkeit der exakten Fallbeschreibung gründet.

Trotzdem klagt der Sachbuchautor, und auch wenn er sich damit performativ widerspricht, das Urheberrecht öffnet ihm eine kleine Tür. Denn denkbar ist in der Tat, dass die spezifische Auswahl und auch die dramaturgische Anordnung des Tatsachenmaterials doch eine "individuelle" schöpferische Dimension zu der Historie hinzufügen kann (auch wenn man ausklammert, dass erkenntnistheoretisch jede "objektive" Tatsachenbehauptung subjektiv konstituiert ist).

Alles andere als bedrohlich

Doch das Gericht lässt sich trotz dieser denkbaren Ausnahme hier Fall keinen Sand in die Augen streuen, zu Recht. Denn "Tannöd" greift zwar, neben polizeilichen und anderen Akten, auch auf die Recherche des Klägers zurück, aber übernimmt von ihm keine Passagen und keine Dramaturgie der Fallbeschreibung. Die kleinen übernommenen Details verschwinden in Schenkels literarischer Ausarbeitung fast vollständig.

Für das literarische Treiben ist der Fall also alles andere als bedrohlich. Immerhin ist er auch für den Journalismus nicht uninteressant. Denn selbst beim Reporter mischt sich das Ethos des objektiv berichtenden Informationsbeschaffers mit der eitlen und uneitlen Beimengung "schöpferischer" Elemente. Wer hier abschreibt, muss urheberrechtlich wissen, was er tut.

© SZ vom 22.2.2008/kur - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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