Plattenlabels einigen sich:Hier spielt jetzt die Musik

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Ein neues Zeitalter der Musiknutzung hat begonnen: Die vier größten Plattenfirmen lassen nun online alles umsonst anhören.

N. Hofmann und J.-C. Rabe

Als der Produzent und Pop-Visionär Rick Rubin vorschlug, die vier größten Musikkonzerne der Welt - die sogenannten "Majors" Universal, EMI, Warner und Sony - müssten sich auf ein Abo-Modell einigen, wenn sie auch in Zukunft überleben wollten, wurde er von vielen für verrückt gehalten.

Musik im Ohr - direkt aus dem Computer: MySpace hat sich mit den vier Musik-Majors geeinigt und bietet deren Songs seit kurzem in den USA an. (Foto: Foto: AP)

Es hieß, eher bringe man vier verfeindete Mafiabosse an einen Tisch als dass sich die konkurrierenden Firmen darauf einigen könnten, ihr gesamtes Archiv gemeinsam im Netz als virtuelle Musik-Bibliothek anzubieten.

Im vergangenen Januar schien eine gemeinsame Antwort der Majors dann plötzlich doch ganz nah. Auf der Midem, der größten Musikindustriemesse der Welt in Cannes, gab die Internet-Plattform Qtrax bekannt, sie habe sich mit allen großen Konzernen geeinigt.

Aber schon nach zwei Tagen war klar, dass die Sensation gar keine war. Vielleicht liegt es an dieser großen Luftnummer, vielleicht aber auch einfach nur an der transatlantischen Distanz, dass eine andere, ungleich bedeutendere Meldung bislang ziemlich unterging: Inzwischen nämlich hat wohl tatsächlich ein neues Zeitalter der Musiknutzung begonnen.

Doch wieder dicke Gewinne?

Das zum Imperium des mächtigen Medienunternehmers Rupert Murdoch gehörende soziale Netzwerk MySpace hat sich wirklich mit den Musik-Majors geeinigt und bietet in den USA seit kurzem das Onlinemusikangebot MySpace Music an.

Aber selbst auf der größten deutschen Musikindustriemesse Popkomm Anfang Oktober in Berlin spielte die erstaunliche Entwicklung kaum eine Rolle. Der britische Journalist und Fernsehproduzent Ray Cokes, als Moderator einst eine Ikone des Musiksenders MTV, brachte die Lage in einer Diskussionsrunde immerhin schlagend auf den Punkt: "In der Plattenindustrie ist kein Geld mehr zu holen - und alle wissen es."

Ist MySpace Music nun die Gelegenheit, doch wieder dicke Gewinne zu machen? Joel Berger, Chef von MySpace im deutschsprachigen Raum und Nordeuropa glaubt fest daran: "Das Besondere wird sein, dass wir über werbefinanzierte Pre-Listenings der Musikindustrie neue Einnahmequellen erschließen." Das seien neue Formen der Refinanzierung, "ohne dass der Nutzer zu sehr in Mitleidenschaft gezogen wird."

Das Kernangebot jedenfalls ist kostenlos. Überzeugt haben dürfte die Musikkonzerne Murdochs Angebot, sie direkt an dem Dienst zu beteiligen (angeblich insgesamt zu 40 Prozent), wobei die jeweiligen Anteile je nach Marktanteil gestaffelt sein sollen.

Die Konzerne verdienen also nicht nur, wenn ein Song aus ihrem Repertoire abgefragt wird, sondern sind direkt an den Werbeeinnahmen des Unternehmens beteiligt. Songs von fünf Millionen Künstlern sollen inzwischen zur Verfügung stehen.

Die Musik kann jedoch nicht von der Seite heruntergeladen, sondern nur als sogenannter "Stream" abgespielt werden. Die Playlists wiederum, die jeder Nutzer in beliebiger Zahl für sich anlegen kann, können von MySpace-"Freunden" eingesehen und abgespielt werden.

So soll der Musikkonsum angekurbelt werden und schließlich auch der Verkauf. Über Amazon MP3 kann man jeden Song als Download für 79 bis 99 Cent kaufen. Bald schon kann man dort wohl auch Konzertkarten und Merchandise-Artikel erwerben. Die Konsum-Kette darf auf keinen Fall unterbrochen werden.

Einige große Haken

Cum grano salis sind die Angaben der Firma zu nehmen, nach denen in den ersten sechs Tagen eine Milliarde Streams auf MySpace Music abgerufen worden seien.

Das klingt enorm, angesichts der Tatsache jedoch, dass auf der Mutterseite myspace.com angeblich jeden Monat rund fünf Milliarden Streams abgespielt werden, scheint es vor allem ein Anfang. Begehrlichkeiten und Konflikte gibt es allerdings schon reichlich, denn die Sache hat natürlich einige große Haken.

Anders als den Majors wurde den unabhängigen Labels zum Start keine Beteiligung am Joint-Venture MySpace Music angeboten. Das überrascht, schließlich wurde die Seite erst zum zentralen virtuellen Pop-Ort der Gegenwart, als Künstler wie Lily Allen oder die Arctic Monkeys sich ohne Plattenverträge über MySpace ihr Publikum gesucht und es so zu Starruhm gebracht haben.

Dass die Großen der Branche als Miteigentümer über die Werbeeinnahmen an jedem einzelnen Musiktitel ihrer Indie-Konkurrenz mitverdienen sollen, dass zudem noch ihre Verkaufszahlen für die großen Player offenliegen würden, das stört die kleinen Labels doch gewaltig.

Die Verhandlungen der unabhängigen Plattenlabels mit MySpace Music laufen jedoch noch. Stimmführer ist der internationale Independentlabel-Zusammenschluss Merlin Network, im Mai diesen Jahres als Non-Profit-Organisation gestartet.

Mit 12.000 Mitgliedern, umgerechnet also zwischen 20 und 30 Prozent des Musik-Weltmarktes, bezeichnet sich der Verbund selbst als "fünfter Major". Auch vergangenen Freitag noch verhandelte Merlin-Geschäftsführer Charles Caldas in Los Angeles mit MySpace, um für Merlin-Mitglieder eine angemessene Vergütung erhalten.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, welche Vorbehalte die kleinen Musikvertriebe gegen MySpace haben.

"Wir versuchen das kaufmännisch so gut zu verwerten, wie wir können", sagt Caldas. Dabei will man sich nicht zu billig verkaufen: Irgendeine Einigung mit MySpace hätte man schon vor Monaten haben können. Aber, so Caldas: "Wir schließen keinen Deal ab, ohne dass die Bedenken unserer Mitglieder berücksichtigt werden."

Parallel zu den laufenden Gesprächen versucht MySpace Music jedoch hartnäckig und nicht ohne Erfolg, unabhängige Musikverwerter anzulocken.

"Wir wissen, dass MySpace herumläuft und versucht, kleinere Vertriebe abzuwerben", sagt Mark Chung, der Vorsitzende des deutschen Verbands unabhängiger Tonträgerunternehmen (VUT).

In der vergangenen Woche schloss der zweitgrößte Independent-Digital-Vertrieb IODA mit Künstlern wie Broken Social Scene, Animal Collective und Cake, aber auch Black-Music-Klassikern wie Ray Charles und Billie Holliday einen eigenen Vertrag mit MySpace ab - obwohl IODA Mitglied bei Merlin ist.

Die Einigung umfasst nach Presseberichten auch eine Beteiligung an den Werbeeinnahmen. Einen Kapitalanteil an MySpace Music hat aber offenbar auch IODA nicht heraushandeln können.

Mark Chung berichtet, dass immer mehr VUT-Mitglieder angesichts solcher Methoden die Geduld mit MySpace verlieren. "Wir verlangen, nicht als Menschen zweiter Klasse behandelt zu werden," sagt er.

"Kein Verständnis für Künstler"

Chung war bis 2005 Senior Vice President bei Sony Music in London, kennt sich also auch mit den Gepflogenheiten in der ersten Klasse bestens aus. Bisher hätten sich die Independent-Labels das Treiben von MySpace einigermaßen gleichmütig angesehen, das könne sich aber auch ändern.

Man müsse vielleicht stärker klar machen, wer hinter MySpace stehe; dass dies mit Fox-News-Eigentümer Rupert Murdoch und seiner News Corporation dieselben Leute seien, "die uns in den Irak-Krieg geführt haben. Von denen erwarten wir kein Verständnis für Künstler."

Die Botschaft laute: "CorporateSpace ist überhaupt nicht cool." Nach wie vor sei man aber an einer Einigung interessiert, versichert Chung, denn der Vertriebsweg MySpace Music bleibe interessant. Nur müsse MySpace verstehen, dass die Indies am Ende nicht gezwungen seien, mitzumachen. Kunden für ihre Musik gebe es, "und die werden wir auch finden."

MySpace-Mann Berger aber geht davon aus, dass doch noch alle an Bord kommen werden: "Das wird ein sehr wertvoller Kommunikations- und Abverkaufskanal für die Indies. Dass der ihnen nicht auch noch gehört - nun gut, der Media Markt gehört ihnen auch nicht."

Die Querelen mit den Independent-Labels könnten einer der Gründe dafür sein, dass nach nicht feststeht, wann MySpace Music in Europa online gehen soll. "In einigen Monaten" werde es dort so weit sein, hieß es vage zum US-Start, und diese Ankündigung wurde seither nicht präzisiert.

In den USA konnte man anfangen, sich mit den Independents geeinigt zu haben, aber Mark Chung glaubt, dass das aufgrund unterschiedlicher Musikgeschmäcker in Europa anders aussehe: "Stellen Sie sich vor, Sie fangen in Großbritannien an und die Arctic Monkeys, die White Stripes und Franz Ferdinand sind nicht dabei!"

Ein "walkman-ähnlicher Apparat" namens Handy

Ein anderer Grund liegt darin, dass in Europa mit jeder nationalen Verwertungsgesellschaft Verträge geschlossen werden müssen. Auch mit der deutschen Gema ist man sich noch nicht einig, berichtet Joel Berger. Die Gema würde gerne 10 bis 20 Cent pro Streaming eines Songs kassieren. "Das ist extrem viel," sagt Berger, "das kann man sich als Anbieter nicht leisten."

Nicht zuletzt könnte aber durch die Eigentümer-Struktur von MySpace Music durchaus das europäische Kartellrecht berührt sein. Ein Joint Venture, bei dem Plattenfirmen, die zwischen 70 und 80 Prozent des Musikmarkts kontrollieren, sich gemeinsam an einem womöglich bedeutenden Vertriebsweg beteiligen, während kleineren Mitbewerbern diese Möglichkeit verbaut wird, wirft zumindest Fragen auf.

Handelt es sich dabei um einen anzeigepflichtigen Zusammenschluss mit marktbeherrschender Stellung? Und sind in den Verträgen der Joint-Venture-Partner Regelungen enthalten, die den Wettbewerb beschränken? Gut möglich, dass diese Fragen am Ende zu Gunsten von MySpace beantwortet werden. Ob dies nach europäischem Recht auch wirklich so ist, werden die Eigentümer aber genau prüfen wollen. Joel Berger wiegelt ab: "Ich sehe diese Probleme nicht. Das ist ja in den USA auch durchgegangen."

Rick Rubin übrigens sah, bei aller visionären Ehre, die ihm gebührt, einen entscheidenden Aspekt der Entwicklung noch nicht: die prinzipielle Kostenlosigkeit des Angebots. Er schlug 19,95 Dollar als Preis vor für ein Musik-Abo und prophezeite sich verzehnfachende Umsätze der Branche.

Eine andere Rubin-Idee dürfte allerdings kaum noch aufzuhalten sein: der "Walkman-ähnliche Apparat", mit dem man von überall Zugriff hat auf seine virtuelle Musik-Bibliothek. Ein Gerät, dass für diese Aufgabe prädestiniert erscheint, gibt es längst. In Deutschland nennt man es Handy.

© SZ vom 28.10.2008/pak - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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