Philip Glass:Ich bin Mitglied in vielen Klubs

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Der amerikanische Komponist sucht sein Leben lang nach einem musikalischen Resonanzraum, der alle Kulturen verbindet. Nun wird er 80 Jahre alt.

Interview von Michael Struck-Schloen

Es tickt irgendwo, ein unbarmherziges Klack-klack-klack im gemäßigten Tempo. Ist das ein Hörgerät außer Kontrolle, ein Herzschrittmacher? Der Dirigent Dennis Russell Davies deutet auf die verbeulte Seitentasche an der Arbeitshose des Komponisten‒ Philip Glass, und der zieht ein elektronisches Metronom heraus und entschärft es mit bübischem Lächeln. Philip Glass und Steve Reich sind die berühmtesten Pioniere dieser Musik, die schon lange nicht mehr Minimal Music heißt, aber sich bis heute den Geist des Verlustes und der meditativen Trauer bewahrt hat. Glass wurde am 31. Januar 1937 in Baltimore geboren. Seine mit Robert Wilson konzipierte Oper "Einstein on the Beach" aus dem Jahr 1976 gehört zu den wichtigsten Stücken des 20. Jahrhunderts. Sie war der Auftakt zu 24 weiteren Bühnenwerken, dazu kommen Sinfonien, Konzerte, Kammermusik, Ballettpartituren und Filmmusiken. Zum 80. Geburtstag spricht Philip Glass im Musiktheater von Linz, wo er an Proben zu seiner 11. Sinfonie teilnimmt.

SZ: Gerade ist eine CD-Box mit Ihren Sinfonien Nr. 1 bis 10 erschienen, die Dennis Russell Davies eingespielt hat. Jetzt wird er zu Ihrem 80. Geburtstag mit dem Bruckner Orchester Linz Ihre 11. Sinfonie in der Carnegie Hall uraufführen. Kein Dirigent hat mehr Ihrer Werke aus der Taufe gehoben. Wie ist es zu dieser künstlerischen Symbiose gekommen?

Philip Glass: Dennis hat immer schon zeitgenössische Komponisten gefördert: Hans Werner Henze, Lou Harrison. Ich gehörte auch dazu. Aber ich habe ihn lieber nicht gefragt, wen er am meisten mochte. Wir haben uns zum ersten Mal 1978 getroffen. Letztlich ist daraus dann die Stuttgarter Trilogie mit "Einstein on the Beach", "Satyagraha" und "Akhnaten" ‒ geworden, eine wahnsinnige Herausforderung, ähnlich wie Wagners "Ring des Nibelungen".

Wollten Sie eine neue Art von Oper schaffen,‒eine große Form in Episoden, die an die rituellen Spiele der alten Griechen oder des Mittelalters erinnern, aber nicht um Mythen, sondern um historische Personen kreisen?

Diese Opern wären nie ohne Bob Wilson, den Regisseur Achim Freyer oder den Dramaturgen Klaus Peter Kehr entstanden. Und dass ein Opernkomponist auf reale Personen wie Mahatma Gandhi, Walt Disney oder Einstein eingeht, ist nicht meine Erfindung. Das gibt es auch bei Verdi oder Beethoven.

Der Unterschied ist, dass Sie oft Helden aus der amerikanischen Geschichte oder der Kultur auftreten lassen. Fühlen Sie als amerikanischer Komponist die Verantwortung, Ihre eigene Geschichte und Gesellschaft zu kommentieren?

Wir hatten in Amerika nicht diese Reihe hoch entwickelter Kulturen wie in europäischen Ländern. Aber wir hatten einige großartige Leute, etwa Abraham Lincoln, der nie auf einer Schule war und trotzdem Anwalt und letztlich Präsident wurde, ein einfacher Mann aus einer Blockhütte in den Wäldern. Amerika hat viele solcher Persönlichkeiten, weil es so viele unterschiedliche Menschen aufgenommen hat, auch meine Großeltern, die aus Litauen kamen. Deshalb lasse ich Lincoln in meinen Opern auftreten, Martin Luther King oder auch Walt Disney in "The Perfect American". Ich finde die Geschichte meines Landes ungeheuer inspirierend. Und ich bin froh, dass ich ein Teil von ihr bin.

Welches Ereignis der vergangenen Jahre betrachten Sie als wichtigsten Einschnitt für die amerikanische Gesellschaft?

Ich fürchte, das ist die jüngste Präsidentenwahl.

Wird es irgendwann von Philip Glass eine Oper über Donald Trump geben?

Oh nein, verkrachte Persönlichkeiten interessieren mich nicht. Und er ist eine, dafür ist mir die Zeit zu schade. Tut mir leid, falls Sie ein Freund von ihm sind.

In Ihren Opern über Wissenschaftler prallen Menschen wie Johannes Kepler, Galilei Galileo oder Albert Einstein mit ihrem Denken auf eine feindselige Gesellschaft.

Ich glaube, ich habe die meisten Opern über Wissenschaftler überhaupt komponiert. Vielleicht liegt es daran, dass ich Mathematik und Philosophie studiert habe. Aber jemand wie Kepler hat die Welt auf eine ganz tiefgründige Art begriffen. Und mir gefällt, dass das wissenschaftliche Interesse eine Spezialität der Buddhisten ist. Der Dalai Lama hat mir einmal gesagt: Wenn Sie mir wissenschaftlich beweisen können, dass es keine Seele gibt, werde ich das akzeptieren.

Sie haben sich zum Buddhismus bekannt, nachdem Sie dem indischen Musiker Ravi Shankar und tibetanischen Flüchtlingen begegnet sind. Eine Weile war der Buddhismus fast eine Mode. Wie sehen Sie das heute?

Ich bin genauso bekennender Buddhist wie bekennender Tolteke, bekennender Hindu oder sogar Katholik. Ich bin nicht Mitglied in einem Klub, sondern in vielen Klubs.

Obwohl Sie aus einer jüdischen Familie stammen?

Sie war nicht orthodox, ich stamme aus der dritten Generation von Atheisten. Auch die Juden haben eine große Tradition des Atheismus, ‒ man nennt diese Gruppe die "weltlichen Juden". Sie akzeptieren die jüdische Gemeinschaft, aber nicht die Religion. Mein Vater und mein Großvater gehörten zu dieser Art Juden. Für mich war das sehr gut, weil ich so ziemlich vorurteilsfrei aufgewachsen bin.

Trotzdem haben Sie sich immer wieder mit spirituellen und religiösen Problemen beschäftigt. Am ausgiebigsten in Ihrer fünften Sinfonie. Sie vertonen da hebräische, arabische, japanische, indische und afrikanische Texte, das Ganze ist eine monumentale Feier der Gemeinsamkeiten zwischen den Kulturen.

Ich denke, dass es zwischen diese Kulturen gemeinsame Wurzeln gibt, einen gemeinsamen Resonanzraum von Gefühlen und Werten. Jeder der zwölf Sätze hat ein eigenes Thema: Es geht um Mitleid, um Liebe und Tod. Dabei scheint jede Kultur ihr "Spezialgebiet" zu haben. Wenn man etwas über den Tod erfahren will, muss man die Japaner fragen. Es jagt einem Angst ein, wenn sie vom schieren Grauen des Todes erzählen. In der Liebe ist die jüdische Kultur ziemlich gut.

Sie haben 2014 zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder mit Steve Reich gemeinsam auf der Bühne gestanden, davor galt ihr Verhältnis als eisig. Lag das daran, dass Sie beide die Erfindung der Minimal Music für sich reklamieren?

Überhaupt nicht. Ich kannte Steve vom Musikstudium an der Juilliard School, wir haben miteinander musiziert, wir waren eine Familie. Danach haben wir uns bei unseren Aktivitäten aus den Augen verloren, sind aber immer respektvoll geblieben.

Bei Ihren Live-Auftritten mit Ihrem Ensemble in den achtziger Jahren fielen besonders die Instrumente, Keyboards und Blasinstrumente und die Lautstärke auf. Das gab es damals in der zeitgenössischen Musik kaum. Wirkte da die jugendliche Rebellion der Popmusik nach?

Finden Sie, dass es laut war? In jedem Fall nicht so laut wie Frank Zappa, der im Fillmore East, einem der angesagten Orte in New York, die Lautsprecherboxen bis zur Decke getürmt hat. Das war wirklich Proto-Punk als Protest! Ich wollte nicht rebellieren, sondern wir hatten ein Problem: Wir waren im Ensemble mehrere Komponisten, die, wie die meisten Komponisten, nur Klavier spielten. Weil man aber für Konzerte selten vier Klaviere auftreiben kann, kauften wir uns diese billigen Rock-and-Roll-Keyboards und haben sie ordentlich verstärkt.

Also war die Minimal Music kein Protest gegen die etablierte Musikszene?

Ich halte nicht viel von Protest in der Musik. Es gibt politische und soziale Themen, die mich interessieren. Was die Mainstream-Komponisten angeht, warte ich lieber, bis sich das Thema von selbst erledigt hat.

Gehören Sie heute nicht selbst zum Mainstream?

Überraschenderweise ja! Im letzten Sommer habe ich zweimal in Amsterdam gespielt: Am ersten Abend kamen fünftausend Jugendliche, am zweiten Abend sechstausend, alle im Alter meiner Enkelkinder. Und ich dachte: Interessant, ich schreibe keine Hip-Hop-Musik, meine Musik klingt ganz anders als ihre, aber sie mögen sie trotzdem.

Aber Sie waren, zumindest in den USA, schon immer ein Star . . .

Betrachten wir es von der anderen Seite: Meinen ersten großen Musikpreis habe ich von der japanischen Regierung bekommen,‒ mit 75 Jahren!

Ziemlich spät.

Fast zu spät. Zum Glück habe ich noch gelebt. Meine erste Professur hat man mir mit 73 Jahren angeboten, aber ich habe ihnen gesagt, dass es für mich zu spät sei.

Fühlen Sie sich als Komponist zwischen allen Stühlen?

Das ist mir völlig egal. Vor langer Zeit habe ich gelernt, dass Unabhängigkeit wichtiger ist als Erfolg. Unabhängigkeit gab mir die Freiheit zu tun, was ich wollte. Jede Anerkennung ist künstlerisch ein Desaster.

© SZ vom 31.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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