Peter Sloterdijks Zivilisationskritik:Wo sind die Nichtschlümpfe?

Lesezeit: 4 min

Mann oder Memme: Der Philosoph Peter Sloterdijk schwelgt im süßen Ekel des Intellektuellen vor der verwöhnten Masse.

Jens-Christian Rabe

Kein Philosoph, kein Denker, so scheint es, verfügt zur Zeit noch über echte Anziehungskraft - außer: diesem einen. Peter Sloterdijk. Der große Saal im Münchner Literaturhauses war bis auf den letzten Platz besetzt. Die Klimaanlage arbeitete unüberhörbar am Limit. Fast fünfhundert Besucher waren am vergangenen Montag gekommen, um den Karlsruher Professor - nun ja: zu hören? Zu erleben? Zu sehen, so ganz in echt, nicht nur im Fernsehen?

Am Montagabend ein humorloser Kulturelitist: Peter Sloterdijk. (Foto: Foto: dpa)

Was genau jeden einzelnen zu seinem Kommen bewogen haben mag, das war nicht unbedingt immer völlig klar, denn nach dem Ende der etwa einstündigen Lesung aus seinem neuesten Buch, "Zorn und Zeit" standen nach und nach ungewöhnlich viele Gäste einfach auf und gingen. Ihren leeren Gesichtern war wenig zu entnehmen. Waren sie noch verabredet, fuhr ihr Bus, lief die Parkuhr ab? Oder waren sie einfach zu müde, um nach einem langen Arbeitstag auch noch dem Gespräch folgen zu können zwischen Sloterdijk und seinem Freund und Co-Moderator beim Philosophischen Quartett im ZDF, dem Schriftsteller Rüdiger Safranski?

Aufgeregt, weil er das Vorgetragene vielleicht so ganz und gar nicht teilte, sah jedenfalls keiner von ihnen aus. Eher bloß: schlaff. Sie hatten wohl einfach genug gesehen. Auch ein Philosoph ist in diesen Zeiten schließlich zuerst einmal nichts anderes als ein weiteres Ereignis, dass wegerlebt werden will. Im Fall Sloterdijk bedeutet das: der gravitätische, leicht gebückte und schon damit rein physisch tiefe Gedanken suggerierende Gang auf die Bühne, der schelmisch-skeptische Blick des Sehenden über die Lesebrille, die immer leicht atemlose, viele Pausen setzende Diktion und vor allem: das schräge Vokabular, das ganz gewöhnliche Dinge sofort so neu und aufregend, so wild und erkenntnisschwanger erscheinen lässt. Dazu die obligatorischen Gags fürs bildungsbürgerliche Publikum. Immer auf hohem Niveau und trotzdem knapp darunter. Intellektuelle Kalauer der Art: ,"Bei Dante ist die Hölle ja nichts anderes als eine Behörde, jedes Leben hat seine eigene Akte."

Internationale der Menschenfeinde

All das hatten die, die sich vorzeitig davonschlichen, gesehen. Verpasst haben sie, wie sich der zweifellos große postmoderne Zeitdiagnostiker an diesem Abend nach und nach als beinharter, überraschenderweise auch: ganz und gar humorloser, Kulturelitist offenbarte. Mann oder Memme?

Es ist diese Frage, die Gretchenfrage des Pausenhofs, die Peter Sloterdijk dem seiner Ansicht nach vollkommen verweichlichten Westen stellt, vielmehr: rhetorisch an dessen Köpfe wirft, denn die Antwort ist für ihn längst klar: Im Angesicht der ,"zornigen jungen Männer" des Orients zeigen wir uns als verweichlichte Memmen. In dem seelischen Koordinatensystem des Menschen, das Sloterdijk in ,"Zorn und Zeit" entwirft, zwischen unseren thymotischen Gefühlen also, den ,"stolzhaften Regungen" wie dem Zorn, und unseren erotischen Gefühlen, womit Sloterdijk alle begehrenden Gefühle meint, weil man "im Begehren viel mehr die Gier hört als die Liebe" - in diesem Koordinatensystem befinden wir uns nicht mehr dort, wo wir sein sollten. Wir sind aus dem Gleichgewicht.

Der Prozess der Zivilisation hat uns zu stumpfen Erotikern, gierigen Konsumisten gemacht, deren erstes Gebot lautet: "Du sollst begehren und genießen, was auch immer dir durch genießende Andere als begehrenswertes Gut gezeigt wird!" Die Zivilisation hat uns allen Stolz, alle Würde und damit: allen Zorn gekostet. Was übrig ist, nennt Sloterdijk die "misanthropische Internationale": "Die Internationale der Menschenfeinde, der Welt- und Seinsfeinde, bei denen die Feindschaft gegen alle soweit geht, dass sie die Fähigkeit, sich für irgendetwas zu engagieren, aufgeben."

Harter platonischer Stoff

Alles, was zweihundert Jahre lang eine weltbewegende Linke ermöglicht habe, sei heute nicht mehr am Werk. Verdunstet sei jedes kämpferische Würdegefühl: "Man darf nicht glauben, dass die alte Sozialdemokratie eine Konsumpartei war, es war eine Bewegung, in der Arbeiterstolz geweckt worden ist. Man soll nicht glauben, dass der Anarchismus ein Konsumverein gewesen ist. Es war eine fröhliche Racheverschwörung, die sich dann zeitbedingt in eine sehr düstere protofaschistische Bewegung verwandelt hat, deren Träger Idealisten gewesen sind, Thymotiker reinsten Wassers, die mit der Bombe zu philosophieren versucht haben, und nicht irgendwelche dümmlichen Auslöschungsversuche verübt haben, wie man sie heute gewohnt ist. Sie wollten moralische Ausrufezeichen in eine unerträgliche Welt hineinsetzen, das war eine ganz andere Figur!"

Es sprach also ganz unverstellt an diesem Abend auch etwas der süße Ekel des Intellektuellen vor der trägen, verwöhnten Masse: "Es ist in der Tat so, dass wir heute eine Lebensform haben, bei der es sehr schwierig ist, die in der Tradition kodierten Hochgefühle, Würdegefühle, idealistischen Gefühle direkt zu transponieren." Es gebe in seiner Arbeit ein gewisses "Heimweh nach einer Zeit, als Menschen unbemühter einen größeren Horizont beanspruchen konnten. Ich habe tatsächlich so ein - es ist wahrscheinlich eine schwere Neurose - Heimweh nach einem etwas größeren, größer formatierten Menschen. Sagen wir einfach mal: nach Nichtschlümpfen. Ich bin ja sonst immer einverstanden, aber nicht mit der Tendenz, eine systematische Menschenverkleinerungspolitik als Kultur zu verkaufen."

Es schien, als schlösse sich damit ein Kreis. 1999, im Streit um die Neubesetzung der Intendanz der Münchner Kammerspiele, hatte der unruhige Karlsruher schon einmal ähnlich unmissverständlich klar gemacht, was treibt. Mit einem flammenden Plädoyer für die (Theater-)Hochkultur hatte er in dieser Zeitung für den damaligen Kammerspiel-Intendanten Dieter Dorn Partei ergriffen: "Das latente Thema in der Kultur des 20. Jahrhunderts ist der Vorrang der Demokratie vor der Begabung."

Harter Stoff. Es zeigte sich der lupenreine Platoniker Sloterdijk. Dass es dennoch ganz versöhnlich ausging und ganz friedlich das neue Buch signiert werden konnte, dafür sorgte punktgenau die letzte Volte. Die Sehnsucht nach den Nichtschlümpfen - sie nährt doch vor allem der keimende Konflikt mit dem Islam und seinen "zornigen jungen Männern auf der Hochblüte ihrer Handlungsfähigkeit". Und sie ist gerichtet gegen die "Wiederaufrüstung des Christentums". Denn die führe zu nichts: "Wir haben keinen Konflikt mit dem Islam, der Islam hat einen Konflikt mit den Islamisten." Große Politik geschehe heute in der Form der Balanceübung, und dafür müsse man wissen, zwischen welchen Abgründen man zu balancieren hat. Der Mann wollte also doch nur spielen.

© SZ v. 6.2.07 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: