Personalie:Unbefristet bis zum Wechsel

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Bis 2016 betreut Chris Dercon an der Londoner Tate Modern noch ein Großprojekt. Aber dann könnte er die Berliner Volksbühne übernehmen. Vorteil: Dort hätte er keinen Chef mehr über sich.

Von Alexander Menden

Ein bisschen Premierenatmosphäre verbreitet Chris Dercon schon jetzt bei jeder Ausstellungseröffnung der Tate Modern: Dann streift er, weißhaarig, umgeben von einer beeindruckenden Impresario-Aura, durch die Säle, grüßt Freunde und Bekannte - und das sind fast alle Anwesenden. Ähnliches könnte man sich ohne Weiteres im Foyer der Berliner Volksbühne vorstellen. Sollten sich die Gerüchte bewahrheiten, dass der 56-jährige Belgier den ewigen Frank Castorf, 63, als Leiter des Theaters am Rosa-Luxemburg-Platz beerben wird - am jobgemäßen Auftreten würde er jedenfalls nicht scheitern.

Vollzieht Chris Dercon, der so gern Spartengrenzen erweitert oder gleich abschafft, tatsächlich den Schritt vom Kurator zum Theaterintendanten? Von der Tate ist auf Nachfrage nur zu erfahren, dass man sich "nicht an Spekulationen beteiligen" wolle. Dercons Vertrag sei unbefristet, teilt die Tate-Pressestelle mit. Überraschend wäre es jedenfalls, wenn Dercon das Kunstkraftwerk vor dem Abschluss der Süderweiterung der Turbinenhalle durch Herzog & de Meuron verließe, des bedeutendsten Projekts seiner Amtszeit. Die Eröffnung der 23 000 Quadratmeter neuen Ausstellungsfläche steht 2016 an. Dercon, der ein ebenso tiefes wie breites kuratorisches Fachwissen mit gutem Gespür fürs Spektakuläre verbindet, wird sich kaum die Gelegenheit entgehen lassen, die Tate-Modern-Transformation als Hausherr zu präsentieren.

In Berlin hätte er, anders als in England, wo der Übervater Nicholas Serota unangefochten über alle Tate-Galerien herrscht, keinen Chef über sich. Sollte Dercon also, vermutlich frühestens 2017, in Berlin übernehmen, bekäme die Volksbühne eine völlig andere Art von Intendant. Chris Dercon ist hervorragend vernetzt, charmant und charismatisch. Vor allem aber hat er in London 2011 gezeigt, wie brillant er das System der Public-Private-Partnership zu bespielen versteht, in der Sponsorendeals auch an öffentlich geförderten Institutionen fester Bestandteil der Planung sind. Die Art staatlich subventionierter außerparlamentarischer Opposition, die im deutschen Theater zu großartigen wie grausigen Ergebnissen führt, ist in Großbritannien weder vorhanden noch erwünscht.

Dercon ist unter anderem studierter Theaterwissenschaftler, zudem ein exzellenter Teamarbeiter, der sich praxiserprobte Adjutanten zur Seite stellen würde. Daher dürfte die Sorge in Berlin weniger sein, dass da jemand ohne Theatererfahrung eines der bedeutendsten Häuser Deutschlands übernimmt. Sondern vielmehr die, dass sich ein Theater mit langem programmatischen Atem in den Schauplatz glamouröser Performance- und Einzelevents verwandeln könnte. Eines steht jedoch fest: Eine interessantere, mutigere Wahl als ein beliebiger Name vom deutschen Intendantenkarussell wäre Chris Dercon allemal.

© SZ vom 01.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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