Performer-Treffen:Beinprothesen und falsche Väter

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Auch das gibt es beim Freischwimmer-Festival: humorvolles Performance-Theater mit Veza María Fernández aus Wien. (Foto: Piotr Rybkowski)

Das Newcomer-Festival "Freischwimmer" gastiert in München und wirft die Frage auf: Wie viele Festivals braucht die Stadt?

Von Sabine Leucht, München

Ende April kommt die junge Regie nach München, im Mai folgt "Dance", und in den Spielplänen der Stadt- und Staatstheater haben sich etliche Miniatur-Festivals versteckt. Wozu braucht München also den "Freischwimmer", der vom 7. bis 11. April hier vorbeiplanscht? Christoph Gurk, an den Kammerspielen verantwortlich für die freie Szene, sieht da sehr wohl noch Bedarf: Weil der "Freischwimmer" als tourendes Produktions-Festival die Arbeit von Performance-Newcomern "auf eine neue Stufe der Sichtbarkeit hebt". Das sei, sagt Gurk, ein "gutes Entrée für eine Münchner Gruppe zur überregionalen Vernetzung".

Potenziell, muss man sagen, denn die neunte Ausgabe des Festivals ist hier vorerst nur "zu Gast", nachdem die fünf Produktionen bereits an allen mitproduzierenden Häusern zu sehen waren. Also im Düsseldorfer FFT, den Berliner Sophiensälen, dem Mousonturm in Frankfurt, dem Wiener Künstlerhaus "brut" und der Gessnerallee in Zürich. Dass bei der nächsten Ausgabe in eineinhalb Jahren auch ein Münchner Stück mit im Pool ist, wäre für Gurk "wünschenswert". Doch letztlich müssten sich alle Beteiligten noch einmal zusammensetzen. Und "alle Beteiligten", das sind allein in München viele, nämlich das Kulturreferat, die Kammerspiele und die Spielstätten Pathos und Hoch X, die nun gemeinsam das sind, was Gurk "Aspiranten auf den Koproduktionsstatus" nennt.

Einen großen Tanker wie die Kammerspiele könnte das im Umbruch begriffene Festival einerseits gut gebrauchen, seit die Hamburger Kampnagel-Fabrik nicht mehr mitwuchtet am Programm. Andererseits: Was hat ein Stadttheater im Pulk dieser freien Produktionshäuser verloren? Gurk weiß, dass die Frage, ob sich das Haus seit Matthias Lilienthals Intendanz der Szene gegenüber übergriffig verhält oder ihr eher nützt, kontrovers diskutiert wird: "Wir versuchen, vorübergehend eine Lücke im Münchner Kulturangebot zu schließen, weil es hier mindestens bis 2020 kein freies Produktionshaus gibt." Auch wenn Kulturreferat und Kammerspiele den Festival-Deal ursprünglich unter sich ausgeheckt haben und je zur Hälfte finanzieren, versuchten laut Gurk alle aktuell Beteiligten an einem Strang zu ziehen - etwa gemeinsam zu entscheiden, was zum Oberthema "Family Affairs" in welcher Spielstätte zu sehen sein soll.

Zum Beispiel "Love Fiction" des "zufällig" aus München stammenden Vier-Frauen-Kollektivs "The Agency", das die Kammerspiele koproduziert haben. Die Kammer hätte gerne auch eine Förderung des Projekts durch das Kulturreferat unterstützt, was dieses laut Gurk aber problematisch fand, weil ein Gruppenmitglied Regieassistentin am Haus war. Nun gibt es stattdessen das Festival, wo The Agency mit der Gruppe Rylon laut Programmheft "postpragmatisches Beziehungsenhancement" in einem Zelt betreibt, wofür das Team potenziellen Teilnehmern "comfy Kleidung und eine basale emotionale Elastizität" empfiehlt. Das ist so wenig jedermanns Sache, dass den Kollegen des Berliner Tagesspiegel "der Schrecken dieser Veranstaltung" sprachlos gemacht hat.

Erschrocken ist man in der Hauptstadt auch vor den "Leopardenmorden" der Gruppe K.U.R.S.K. aus Zürich, weil der Performer Timo Krstin einen Opa hat, dessen Memoiren unter anderem das N-Wort enthalten und dem Team der Sophiensäle die Distanz der Performance dazu zu gering schien. Gurk formuliert es diplomatisch: "Es hat nur in Berlin ein Problem gegeben, in allen anderen Städten nicht." Das mit dem N-Wort sei zwar "ein valider Einwand. Aber die Perspektive der Inszenierung ist ganz klar nicht die des Textes." Dass dessen Autor, ein Plantagenbesitzer und SS-Massenmörder, der nach dem Krieg bei der Deutschen Friedensunion unterkam, "ein Schwein" sei, sagt Christoph Gurk, könne man nicht deutlicher machen. Ob das Stück allerdings "erfolgreich darin ist, den Stoff zu bewältigen", solle jeder Zuschauer für sich entscheiden.

Berlin selbst schickt Anna Natt mit "Dame Gothel . . . it hurts to be beautiful" ins Rennen. Im Festival-Trailer ist die "Dame" mit falschem Haar und Beinprothesen zwischen drei Harfenistinnen zugange, wobei sie laut Ankündigungstext Märchen nach sexuellen Konnotationen absucht. Besonders gefallen aber hat Christoph Gurk die Konfrontation der Tänzerin Veza Maria Fernández mit drei nicht-biologischen Vätern. "The Father Care Piece Piece" aus Wien spiele humorvoll "unterschiedliche Performance-Formate durch und unterschiedliche Möglichkeiten, sich einander anzunähern", während unter dem Label "Scripted Reality" versammelte Gießener Künstler dem Publikum nur einen Rahmen vorgeben, den es selbst ausfüllen muss. "Wie wir es wollen" behauptet den Aufführungsort als verlassenes Filmset der TV-Serie "Marienhof". Wer schon immer in einer postapokalyptischen Soap mitspielen wollte, ist hier gut aufgehoben.

Wer es intellektueller mag, für den sitzen am Sonntag von 18.30 Uhr an viele kluge Menschen in der Kammer 2 und diskutieren die Frage: "Wieviel Szene braucht die Stadt?" Und vielleicht auch: wie viele Festivals?

Freischwimmer Festival , Fr., 7., bis Di., 11. April, Kammerspiele, www.freischwimmer-festival.com

© SZ vom 07.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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